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Wie meine Liebe zu Schalke 04 erlosch

26. Juni 2020

Der Fußball-Bundesligist aus Gelsenkirchen steckt in einer seiner schwersten Krisen der Vereinsgeschichte. Viele Fans wenden sich vom Traditionsclub ab. So auch unser Kolumnist Oliver Pieper.

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Enttäuschter Fan beim Spiel 1. Bundesliga, 33. Spieltag: Schalke - Bremen
Ein Fan-Leben lang keine Schale in der Hand - die S04-Fans haben eine besondere Beziehung zu ihrem VereinBild: picture-alliance/Pressefoto Ulmer/B. Hake

Unsere Liebe dauerte ziemlich genau 44 Jahre. Es hätte also nicht mehr viel gefehlt zur Goldenen Hochzeit. Aber wie das auch in Ehen so ist - irgendwann kommt der Moment, in dem Du Dich fragst: Was liebst Du (noch) an dem anderen? Willst Du bis zum Lebensende mit ihm zusammen sein? Oder ist da zu viel Geschirr kaputt gegangen, dass es vielleicht besser ist, jetzt einen klaren Schnitt zu machen und sich zu trennen?

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Eine leidvolle Beziehung: DW-Redakteur Oliver Pieper und sein Verein FC Schalke 04Bild: DW/O. Pieper

Schalke 04 trat in mein Leben, als ich acht Jahre alt war. Ich hatte angefangen, bei Göttingen 05 Fußball zu spielen. In schwarz-gelb. Ein Bild, an das ich höchst ungern erinnert werde. Doch ich wurde schnell blau-weiß: Schalke gewann 7:0 auswärts bei den Bayern, Klaus Fischer erzielte vier Tore, ich war infiziert. "Du suchst Dir nicht Deinen Verein aus, sondern Dein Verein sucht sich Dich aus", hat der britische Fußball-Philosoph Nick Hornby in seinem Buch "Fever Pitch" geschrieben. Ich hatte damals ja keine Ahnung, was das für mich bedeuten würde. Einmal Schalker, immer Schalker.

"Wir werden nie Deutscher Meister"

Es sollte ein 44-jähriger Höllenritt werden. Drei Abstiege, ein UEFA-Pokalsieg, eine Meisterschaft von viereinhalb Minuten. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Aber im Zweifel immer Zweiter, immer Scheitern. Immer im letzten Moment um Haaresbreite das Ziel verpassen. Wie im wahren Leben. Auf den Boden fallen, aufstehen, um dann wieder auf den Boden zu fallen. Mehr Leiden als Feiern. Keiner zelebriert eine Niederlage besser und schöner als wir Schalker.

"Wir werden nie Deutscher Meister" singen wir, wenn uns der Auswärtsblock mal wieder provoziert. Sie haben schließlich nichts verstanden - bist Du Schalker, geht es um viel mehr als nur um Fußball. Es geht um eine Lebenseinstellung, die man mit stolz geschwellter Brust verkörpert. Um Werte. Wir sind füreinander da, egal wo Du herkommst. Und wie Du aussiehst. Und es ist auch egal, ob und was Du für einen Job hast.

In guten, wie in - meistens - schlechten Zeiten

Ruhrpott. Geradeaus. Direkt. Ich habe nie verstanden, wie man Anhänger eines Klubs werden kann, der immer siegt und acht Mal in Folge Deutscher Meister wird. Wo ist da der Reiz? Was hat das mit dem Leben zu tun, immer und immer wieder zu gewinnen? Worüber soll ich mich dann noch freuen?

FC Schalke 04 - SpVgg Unterhaching 5-3
Ein Trauma: die viereinhalbminütige Meisterfeier und Schalkes tragisches Scheitern im Bundesliga-Titelkampf 2001Bild: picture-alliance/dpa/A. Scheidemann

"In schlechten Zeiten müsst Ihr Schalker sein. In guten haben wir genug davon", hat die verstorbene Vereins-Ikone Charly Neumann einmal gesagt. Und ich habe geliefert: Am 19. Mai 2001 im Parkstadion, als wir Schalker erst die Meisterschaft bejubelten, dann aber auf der Videotafel unser eigenen Beerdigung durch den einen Schiedsrichter und den FC Bayern zuschauen mussten. Am 12. Mai 2007 in einer abgelegenen Kirche in Hannover, als uns der verhasste Nachbar aus der verbotenen Stadt den Titel versaute, was ich auf dem Live-Ticker während der Konfirmation meiner kleinen Cousine gottesfürchtig in der letzten Reihe ertrug. Die Zweitligazeiten und die unzähligen Klatschen, in Gelsenkirchen, München oder in der Stadt, deren Namen ich nicht ausspreche.

Erst Liebe, dann Hass, jetzt Gleichgültigkeit

Jahrelang habe ich meine Wochenendaktivitäten um die Schalker Spiele herum geplant, bin nach Pleiten in S04-Bettwäsche in einen unruhigen Schlaf gefallen, habe mir die Reifen meines Autos aufschlitzen lassen. Nicht einmal im Leben habe ich es gewagt, ein Schalker Spiel vor Schlusspfiff zu verlassen. Wie auch? Unmöglich.

Der Journalist Christoph Biermann hat es in einer Kolumne perfekt auf den Punkt gebracht: "Schalke mag immer lauter und schriller, enthusiastischer, betrübter und chaotischer gewesen sein als die meisten anderen Clubs. Das konnte man, nach Geschmack, nervig finden oder lieben. Aber eins konnte man Schalke nie absprechen: Soul." Aber seit einiger Zeit hat Schalke 04 keine Seele mehr. Und ich war emotional noch nie so weit entfernt von meiner zweiten Liebe wie jetzt. Aus. Funkstille. Das war's. Wie in einer Beziehung, wenn sich der oder die andere die eine Sache zu viel erlaubt. Und dann wird aus Liebe Hass. Oder fast noch schlimmer: Gleichgültigkeit.

Das nächste Spiel? Ich tippe auf 0:4

Was für mich immer undenkbar schien, heute ist es Realität. Die Tore der Partie bei Union Berlin vor kurzem habe ich mir erst drei Tage später angeschaut, den legendären 4:4-Ausgleich von Naldo im Revier-Derby, den ich mir früher jede Woche mindestens einmal angeschaut habe, habe ich nun seit Monaten nicht mehr gesehen. Die aktuelle sportliche Talfahrt meiner Königsblauen ist wie ein Sinnbild meiner Gefühlswelt. In der Tipprunde wette ich mittlerweile auf hohe Niederlagen von Schalke, vorzugsweise 0:4.

Fußball Bundesliga 31. Spieltag | FC Schalke 04 vs. Bayer 04 Leverkusen
Die Schalker Saison in einem BildBild: Imago Images/firo Sportphoto/R. Ibing

Das ultimative Liebes-Aus folgte vor einer Woche: die Kündigung meiner zwei Dauerkarten. Als ich unterschrieb, fühlte ich mich, als sei es die Patientenverfügung gewesen. Weil ich es nicht übers Herz brachte, schickte ich meinen Sohn vor, den ich zum Schalker gemacht hatte (meine vermeintlich größte Erziehungsleistung!), mit dem Einschreiben das furiose Ende der so leidenschaftlichen Liaison zu besiegeln. Wie ich schon so oft gesungen habe: "Ob ich verroste oder verkalke, ich gehe immer noch auf Schalke." Aber jetzt nicht mehr.

Gebe ich meiner Ex noch eine Chance?

S04 Schalke-Boss Clemens Tönnies
"Dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn's dunkel ist, Kinder zu produzieren" - mit diesem Zitat erzürnte Tönnies die FansBild: picture-alliance/G. Kirchner

Es ist einfach genug. Eine rassistische Entgleisung des Aufsichtsratsvorsitzenden Clemens Tönnies, eine flapsige Entschuldigung ohne Konsequenzen, von Business-Kaspern entworfene Marketing-Kampagnen, forcierte Pläne einer Ausgliederung von demselben Menschen, die den Karren finanziell in den Dreck gefahren haben, angesichts der Corona-Krise lächerliche Gehaltseinsparungen der Spieler, Abschenken der Europa League etliche Spieltage vor Schluss, ein ehemaliger Stasi-Major im Aufsichtsrat, ein unwürdiger Abgang des langjährigen Pressesprechers, Rauswurf von 24 Busfahrern, die auf 450 Euro-Basis gearbeitet haben und als absolute Krönung, der Härtefallantrag: Schalke war der einzige Club der Liga, der seinen treuesten Fans nicht das Geld für die durch die Corona-Krise entgangenen Spiele zurückzahlen wollte - wenn ja, sollten die Anhänger, denen der Verein Geld schuldet, mit Dokumenten nachweisen, wie dreckig es ihnen geht. Es ist nur noch unwürdig und zum Fremdschämen.

Samstag fahre ich übrigens wieder auf Schalke. In Gelsenkirchen ist zwar kein Spiel, aber eine Demonstration all' derjenigen, welche die Schnauze voll haben von denen, die nicht verstehen, wofür Schalke wirklich steht. Das alte Schalke erhebt sich. Pünktlich zum Anpfiff, um 15.30 Uhr. Und vielleicht - ganz vielleicht - gebe ich meiner Verflossenen ja noch eine Chance.