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Wie nah ist Deutschland an der Rezession?

Brigitte Scholtes
4. August 2022

Immer mehr Wirtschaftsdaten deuten darauf hin, dass Deutschland wohl auf einen Wirtschaftsabschwung zusteuert. Das dürfte sich verschärfen - je nachdem, wie hart der Winter wird.

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Deutschland | Neuer Wärmespeicher bei Vattenfall
Bild: Christophe Gateau/dpa/picture alliance

Zum fünften Mal in Folge hat die deutsche Industrie weniger Aufträge erhalten als im jeweiligen Vormonat. Im Juni seien die Bestelllungen um 0,4 Prozent gegenüber dem Mai zurückgegangen. Was auf den ersten Blick nach wenig aussieht, summiert sich im zweiten Quartal auf ein Minus von 5,6 Prozent.  Auch wenn der aktuelle Auftragsbestand - auch wegen der anhaltender Probleme bei den Lieferketten - noch sehr hoch ist, so dürfte er doch nicht verhindern, dass die wirtschaftlichen Probleme auf die Industrieproduktion durchschlagen, meint Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank: "Die Gefahr einer Rezession steigt."

Damit rechnen auch andere Ökonomen. Eine technische Rezession - also ein Schrumpfen der Wirtschaft in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen - erwartet etwa auch die Dekabank. "Es könnte aber auch sein, dass sich die Rezession vom vierten Quartal dieses Jahres bis ins zweite Quartal des kommenden Jahres streckt", sagt deren Konjunkturexperte Andreas Scheuerle. Der Rückgang bei den Bestellungen ist jedoch nur ein Anzeichen für die schwierige Konjunkturlage. Es gibt mehrere Gründe für die Wirtschaftsschwäche.

Inflation frisst Kaufkraft auf

Da ist zum einen die hohe Inflation, die die Kaufkraft der Konsumenten schwächt: "Die Bürger können sich nicht mehr soviel leisten und wollen es vielleicht auch nicht mehr", sagt Scheuerle. Denn die Unsicherheit ist groß, welche Kosten etwa über die kriegsbedingt steigenden Energiepreise und die Gasumlage noch auf sie zukommen könnten. Wie schlecht die Kauflaune ist, das zeigte der Konsumklimaindex der  Nürnberger GfK Ende Juli, als das Stimmungsbarometer weiter absackte.

Produktionslinie beim Motorsägenhersteller Stihl
Produktionslinie beim Motorsägenhersteller Stihl Bild: Bernd Weißbrod/dpa/picture alliance

Zum anderen ist auch die Weltwirtschaft geschwächt, allen voran die USA, einer der wichtigsten Absatzmärkte für die deutsche Industrie. Weil dort die Inflation so hoch liegt, strafft die amerikanische Notenbank Fed die Zügel deutlich schneller und stärker als dies die EZB im Euroraum tut. Und zum dritten drückt die Unsicherheit über die Gasversorgung auch die Unternehmen. "Eine starke Rationierung wird es im Winter wahrscheinlich nicht geben", vermutet Dekabank-Ökonom Scheuerle. Aber die Unternehmen dürften wahrscheinlich beim Gasverbrauch sparen, damit also weniger produzieren als das unter normalen Bedingungen möglich wäre.

Und nicht zuletzt weiß aktuell niemand, wie stark sich das Coronavirus im Winter wieder ausbreiten wird. Das träfe die Wirtschaft vor allem über höhere Krankenstände. Lockdowns in Deutschland dürfte es wahrscheinlich nicht mehr geben, glaubt Scheuerle. Aber: "Man muss immer damit rechnen, dass in China nochmals ein Standort oder ein Hafen vorübergehend schließen." Welche Auswirkungen das auf die Lieferketten hat, das konnte man im Frühjahr beobachten.

Angst vor Gaskrise lähmt Unternehmen

Insgesamt also sinkt die Zuversicht der Unternehmen. Der wichtige Ifo-Geschäftsklimaindex zeigt, dass sich die Nachfragesituation im Juli gegenüber dem Vormonat verschlechtert hat. Und die Geschäftserwartungen, die die Münchner Wirtschaftsforscher ebenfalls immer abfragen, sind für die kommenden sechs Monate stark gefallen. Das sei ein Niveau, das bei Rezessionen zu beobachten sei, es spiegele "handfeste Risiken" wider, analysiert Jörg Krämer von der Commerzbank: "Schließlich spielt Putin am Gashahn und befeuert die Angst vor einer Gaskrise." Damit wolle er die deutsche Öffentlichkeit mürbe machen: "Dieser Nervenkrieg um das Gas verunsichert auch die Unternehmen und lässt sie beim Bestellen vorsichtiger werden." Zum Teil könnten Kunden auch Aufträge stornieren oder verschieben, ist zu hören. Damit würde also das hohe Auftragspolster, das die Industrie eigentlich in den letzten beiden Jahren beruhigt hatte, allmählich aufgebraucht.

Eine Rezession ist also fast unausweichlich. die dürfte aber nicht so scharf und tief ausfallen wie in der Finanzkrise nach der Lehman-Pleite oder in den ersten Monaten der Corona-Pandemie. "In der Spitze könnte die deutsche Wirtschaft um 0,4 Prozent schrumpfen", schätzt Dekabank-Volkswirt Scheuerle. Aber auch der Aufschwung werde danach nicht so kräftig ausfallen. Denn das Problem der Gasknappheit besteht ja weiter. Auch im Winter des kommenden Jahres muss man wohl mit weiteren Belastungen rechnen. Und das könnte dann auch zumindest Teile der deutschen Industrie dazu bewegen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern, dorthin, wo Energie günstiger und vor Ort ist. Die aktuellen Schwierigkeiten könnten also zu langfristigen strukturellen Veränderungen der Wirtschaft führen.