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Politik

"Wie viele Türken ist ein Deutscher wert?"

Ercan Coskun
20. Februar 2018

Die einen sehen sie als Beleg für die Willkür des türkischen Staates, die anderen als ungeschickten Schachzug der Regierung: die Freilassung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel aus türkischer U-Haft.

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Berlin Die Welt Redaktionsgebäude Deniz Yücel Transparent
Bild: Getty Images/AFP/S. Loos

Vor allem regierungskritische Stimmen begrüßen die Entscheidung, den "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Zugleich unterstreichen sie aber, dass diese Freilassung ein Ergebnis der deutsch-türkischen Verhandlungen ist und somit die Abhängigkeit der türkischen Justiz von der Regierung belegt.

Levent Gültekin von der "Diken" erinnert in seinem Kommentar an das türkische Sprichwort: "Ein Türke ist die Welt wert" und fragt ironisch: "Wie viele Türken ist ein Deutscher wert?" Er findet die Situation für die Türkei ärgerlich bis beschämend: "Während sie (die Regierung, d. Red.) brüllte: 'Hier ist keine Bananenrepublik' , hat sie der Welt gezeigt, dass hier noch nicht einmal eine Bananenrepublik ist." Yücels Freilassung habe gezeigt, es in der Türkei "keine Regeln, kein Gesetz, kein Recht" gälten: "Ich bin wirklich neugierig, ob es überhaupt einen einzigen türkischen Bürger gibt, dem dies nicht leidtut, der sich dadurch nicht beleidigt fühlt, dem das Ehrgefühl nicht verletzt wird, der seinen Kopf nicht senkt, der sich nicht unwürdig, einsam, ungeschützt fühlt."

Türkischer Journalist Levent Gültekin
Türkischer Journalist Levent GültekinBild: privat

Aydın Engin von der kritischen "Cumhuriyet" betitelt seinen Kommentar ironisch "Tante Merkel und Onkel Gabriel". Offenbar sei es hilfreich für verhaftete Oppositionelle, gute Beziehungen zur deutschen Regierungsspitze zu pflegen: "Wenn sie Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Außenminister Sigmar Gabriel überreden und ihre Herzen gewinnen können, dann haben sie den Freilassungsbeschluss in der Tasche."

Engin kritisiert, dass türkische Staatsanwälte nahezu automatisch Untersuchungshaft forderten. Die häufige Begründung sei, dass der Angeklagte flüchten oder die Beweise vernichten könnte. Viele bleiben daher lange Zeit in U-Haft, auch wenn sie am Ende freigesprochen werden: "Es gibt viele weitere Deniz Yücels." Er erinnert aber auch daran, dass die Freilassung kein Freispruch ist: "Aber auch wenn sie nicht in U-Haft sitzen müssen, können sie am Ende zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt werden." Insofern sei der Fall Yücel auch noch nicht abgeschlossen.

Türkischer Journalist Aydın Engin
Türkischer Journalist Aydın EnginBild: DW/K. Akyol

Die Kolumnistin Sevilay Yilman von der regierungsnahen "Habertürk" findet die Kritik der Oppositionellen "sinnlos". "Ja, Merkel hat darum gebeten und die Türkei hat Deniz Yücel freigelassen. Weiß jemand überhaupt, worum wir gebeten haben? Nein!" Deutschland habe als Gegenleistung ein härteres Vorgehen gegen PKK versprochen, behauptet Yilman und weist auf das Verbot der Kurden-Demonstration am 10. Februar in Köln hin.

Auch Nagehan Alçı von derselben Zeitung spricht von einem beiderseitigen Entgegenkommen und kritisiert vor allem, dass die Türkei fahrlässig einen Image-Schaden erlitten habe, weil sie den Prozess von Anfang an falsch verwaltet habe: "Warum wurde der Prozess so in die Länge gezogen, dass das Bild der Türkei als Rechtsstaat Schaden nimmt? Warum wurde die Anklageschrift merkwürdigerweise einen Tag vor dem Freispruch vorbereitet? (...) Musste der Freispruch ausgerechnet gleich am nächsten Tag des Merkel-Yildirim-Treffens angekündigt werden?"

Es sei absurd, schreibt Alçı, dass man Yücel in Untersuchungshaft nimmt und mit 18 Jahren Haft droht, um ihn dann mit dem nächsten Flieger ausreisen zu lassen: "Anscheinend ist es kein normaler Gerichtsprozess. Es ist ein skurriles Vorkommnis, dessen Details in den nachrichtendienstlichen Beziehungen der zwei Länder verborgen sind."

Istanbul Deniz Yucel und Ehefrau nach Freilassung
Nach 367 Tagen türkischer Untersuchungshaft wieder frei: Deniz YücelBild: picture-alliance/AP/C. Erok