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"Schmidt verkörperte die Staatsräson"

Volker Wagener10. November 2015

Helmut Schmidt galt als Sozialdemokrat der besonderen Art. Er hatte Prinzipien, die er auch im politischen Geschäft gegen seine Partei, die SPD, verteidigte. Heinrich August Winkler über den fünften deutschen Kanzler.

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Helmut Schmidt 2011
Bild: Getty Images

Helmut Schmidt galt als Kanzler, der gegen den Zeitgeist regierte. Ja, sogar gegen große Teile seiner Partei, der SPD. Wie erklärt sich seine Reputation, seine Popularität und Autorität angesichts solch einer Ausgangslage?

Helmut Schmidt hatte feste Prinzipien, zu denen stand er, und wenn er etwas für richtig erkannt hatte, dann kämpfte er dafür, auch wenn es im eigenen politischen Lager massive Widerstände und Proteste dagegen gab. Er hat sich vor allem als sogenannter "Macher" bewährt. In der Weltwirtschaftskrise, die mit dem Ölpreisschock von 1973 begann, hat er Deutschland in einer Weise aus der Krise geführt, die Bewunderung, auch außerhalb der Bundesrepublik, hervorrief. Mit Giscard d'Estaing war er einer der Schöpfer der Weltwirtschaftsgipfel, die 1974 mit damals sechs großen westlichen Industriemächten begannen.

Dann hat er in der Krise um die Terroraktionen der Roten Armee Fraktion sein Amt aufs Spiel gesetzt, als er nach der Entführung des Präsidenten des Arbeitgeberverbandes, Hanns-Martin Schleyer, allen Erpressungsversuchen der terroristischen Linken widerstand. Wir erinnern uns daran, wie sehr er damals die Staatsräson der Bundesrepublik verkörpert hat. Er wäre bereit gewesen, von seinem Amt zurückzutreten, wenn die Befreiungsaktion der entführten Lufthansa-Maschine damals in Mogadischu gescheitert wäre. Schließlich hat er in der Auseinandersetzung um die militärische Bedrohung der Bundesrepublik durch sowjetische Mittelstreckenraketen eine Linie durchgehalten, die am Ende dazu führte, dass der Westen und dass die Bundesrepublik Deutschland eben nicht erpressbar waren.

Das ist ein historisches Verdienst, das Schmidt auch als einen der Väter der Wiedervereinigung Deutschlands erscheinen lässt. Er hat mit dazu beigetragen, dass die Sowjetunion bei diesem Versuch, Druck auszuüben auf die Bundesrepublik Deutschland, gescheitert ist, und er hat verhindert, dass Deutschland sich vom Westen trennte. Da hat er in der Tat den allerschwersten Stand innerhalb der eigenen Partei gehabt.

Helmut Schmidt war damit auch der unfreiwillige Mitbegründer der Grünen. Würden Sie diese Behauptung unterschreiben?

In gewisser Weise ist diese These oder Hypothese richtig, denn die Grünen waren damals nicht nur die Partei, die gegen die Atomenergie stand, sondern sie waren eine im wesentlichen nationalpazifistische oder neutralistische Partei, die den Bruch mit dem Westen für unvermeidbar hielt, sofern der Westen von den Vereinigten Staaten von Amerika verkörpert wurde. Die Grünen stellten das staatliche Gewaltmonopol in Frage, sie hielten die Industrialisierung, in ihrer Frühphase, für einen historischen Irrweg.

SPD-Parteitag 1982 (Foto: picture alliance / Klaus Rose)
Allein gegen (fast) alle. Beim SPD-Parteitag 1982 stand Schmidt mit seinem Nato-Doppelbeschluss auf verlorenem Posten.Bild: picture alliance / Klaus Rose

Helmut Schmidt konnte als Sozialdemokrat eine solche Partei nur als Bedrohung der SPD empfinden, und er hat deshalb eine scharfe Auseinandersetzung mit den Grünen geführt. Freilich kann man durchaus die Frage stellen, ob er die Gefahren der Kernenergie nicht unterschätzt hat. Aber da stand er ganz in der Tradition seiner Partei, die im Godesberger Programm von 1959 die Möglichkeiten, die die friedliche Nutzung der Kernenergie bot, geradezu euphorisch gefeiert hatte. Da war Schmidt durchaus Kind seiner Zeit.

Was war sozialdemokratisch am fünften deutschen Bundeskanzler?

Helmut Schmidt hielt aus guten historischen Gründen die SPD für die Partei, die als einzige die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, bis zuletzt konsequent verteidigt hatte, und er hatte einen klaren Begriff von sozialer Verpflichtung gegenüber den wirklich Notleidenden. Er hatte einen Begriff von sozialer Gerechtigkeit, den er immer auch zu modernisieren bereit war. Er wollte nicht eine soziale Gerechtigkeit im Sinne eines Protektionismus nach Innen, im Sinne der Wahrung sozialer Rechte um jeden Preis. Er war durchaus bereit, immer wieder zu fragen ob unsere Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit auch in der Lage ist, dem Wettbewerbsdruck standzuhalten.

Er hatte ebenso klare Vorstellungen von der Notwendigkeit staatlicher Rahmenvorgaben für die grundsätzlich bejahte unternehmerische Freiheit. An diesem Punkt ergaben sich dann zu Beginn der 80er Jahre auch Differenzen mit dem Koalitionspartner, der FDP. Und als diese immer mehr auf Konfrontationskurs in der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit der SPD ging, da hat er es in der entscheidenden Krise auch vermocht, die Verantwortung der FDP für den Koalitionsbruch von 1982 herauszuarbeiten, und eben damit einen gloriosen Abgang aus dem Amt des Bundeskanzlers vorbereitet, der ihm neues Ansehen einbrachte.

"Der Lotse geht von Bord", die berühmte englische Karikatur vom März 1890, die das endgültige Zerwürfnis Bismarcks mit Kaiser Wilhelm II. ins Bild setzt, wurde 1982 noch einmal populär. Damals ging Schmidt als Kanzler von Bord. Warum gilt Schmidt als so bedeutungsvoll wie der deutsche Reichsgründer?

Ich glaube, das Letztere entspricht nicht ganz den allgemeinen Einschätzungen. Die Zeitgenossen irrten 1982, als sie glaubten, Helmut Kohl, der Nachfolger, würde das Erbe von Schmidt verschleudern, so, wie 1890 die wilhelminischen Nachfolger mit Kaiser Wilhelm II. an der Spitze das Erbe Bismarcks verschleudert hatten. Nein, Helmut Schmidt hat nachträglich gesagt, Helmut Kohl habe sein Erbe, was die Sicherheitspolitik, die Politik der Nicht-Erpressbarkeit der Bundesrepublik anging, konsequent fortgesetzt.

Porträt - Historiker Heinrich August Winkler (Foto: Karlheinz Schindler)
Der Historiker Heinrich August WinklerBild: picture-alliance/dpa

Das heißt, er hat seinem Nachfolger in den Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik vollen Tribut gezollt und das historische Verdienst von Helmut Kohl anerkannt, der in Sachen Nachrüstung zusammen mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Linie weiterverfolgt hat, die Helmut Schmidt bis 1982 als Kanzler betrieben hatte. Auch wenn das Spannungen mit den USA bedeutete, die in Sachen der europäischen Sicherheit unter Jimmy Carter keineswegs immer standfest geblieben waren. Das Verdienst von Helmut Kohl ist durch Helmut Schmidt in einer Weise anerkannt worden, die für seine Fähigkeit spricht, zu einem unabhängigen überparteilichen Urteil zu kommen.

Viel ist über die Rivalität zwischen Helmut Schmidt und seinem Amtsvorgänger Willy Brandt geschrieben, diskutiert worden. Erst kürzlich aufgetauchte Briefe legen aber einen anderen Schluss zu. Schmidt hat offensichtlich Brandt bewundert und seine Nähe gesucht.

Es gab Zeiten, in denen Helmut Schmidt Willy Brandt wirklich vorbehaltlos bewundert hat und es gab Phasen, wo die Meinungsunterschiede zwischen ihnen ganz unverkennbar waren. Das gilt vor allem für die Zeit, in der Helmut Schmidt Bundeskanzler war und Willy Brandt Parteivorsitzender. Wir haben ja schon über das Verhältnis Schmidts zu den Grünen gesprochen, da war Brandt sehr viel optimistischer. Er schloss die Grünen als einen künftigen Koalitionspartner nicht aus und setzte auf Kooperation. Langfristig hat Brandt Recht behalten, aber für die damalige Zeit, die späten 70er und frühen 80er Jahre, war Schmidt da sehr viel realistischer. Die damaligen Grünen konnten auf Bundesebene kein Partner der SPD sein. Nicht so lange sie neutralistische Positionen bezogen und die staatliche Rolle als Inhaber des legitimen Gewaltmonopols in Frage stellten.

Dann war vor allem die äußere Sicherheitsfrage ein heikler Punkt. Willy Brandt hat versucht, so lange er es mit seinem Gewissen für vereinbar hielt, Schmidt auch in Fragen der Sicherheitspolitik den Rücken zu stärken. Aber seit 1980 war Brandts Distanz zum Nato-Doppelbeschluss nicht mehr zu übersehen, und das ermutigte natürlich auch viele Sozialdemokraten, öffentlich gegen Schmidt Stellung zu beziehen. In einer Weise, die vielen in Erinnerung geblieben ist, gilt das etwa für Oskar Lafontaine, damals sozialdemokratischer Ministerpräsident des Saarlandes, der Schmidt massiv angriff, als jemanden, der zwar über Sekundärtugenden wie Pflichterfüllung und Disziplin verfüge, mit denen man aber auch ein KZ leiten könne.

Das sind Äußerungen, die Schmidt nicht nur tief verletzten und verletzen mussten, es waren Äußerungen, die eigentlich mit einer Mitgliedschaft in der Sozialdemokratie nicht vereinbar waren. In all den Fragen hätte sich Schmidt mehr Unterstützung von Brandt gewünscht. Dennoch: Nach dem Ende der Kanzlerschaft stellt man im Briefwechsel zwischen beiden dann auch wieder die wechselseitige Annäherung fest, und Schmidt hat großen Wert darauf gelegt, dass es ihm doch gelungen ist, in den letzten Lebensjahren von Willy Brandt auch die freundschaftliche Beziehung wiederherzustellen. Es gab Aussprachen zwischen Ihnen, schriftliche wie auch mündliche, und der wechselseitige Respekt hat auch die Phasen des Dissenses überlebt.

Prof. Heinrich August Winkler zählt zu den bedeutenden deutschen Gegenwartshistorikern. Eines seiner Spezialgebiete ist die Erforschung der Arbeiterbewegung sowie die Geschichte der SPD.

Das Interview führte Volker Wagener.