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"Wir brauchen eine klare politische Linie"

20. September 2010

Welche Lehren kann man aus der afghanischen Parlamentswahl ziehen? Darüber sprach DW-WORLD.DE mit dem ehemaligen UN-Sonderbeauftragten in Afghanistan Tom Koenigs.

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Tom Koenigs mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2007 (Foto: AP)
Tom Koenigs mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2007Bild: AP

DW-WORLD.DE: Herr Koenigs, wenn wir uns die Berichte über den Verlauf der Wahl in Afghanistan anschauen - dann fällt es schwer, dieser Veranstaltung noch etwas Positives abzugewinnen. Wie bewerten Sie den Urnengang?

Tom Koenigs: Also einen positiven Aspekt gibt es doch: Die Taliban hatten angekündigt, die Wahl zu verhindern, und das ist ihnen nicht gelungen. Und entgegen der Befürchtungen ist sie offenbar auch nicht noch schlechter abgelaufen als die Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr. Aber Sie haben Recht: Diese Wahl wird kaum demokratische Legitimation einbringen.

Warum hat die internationale Gemeinschaft aus den Präsidentenwahlen vor einem Jahr nichts gelernt?

Die Internationale Gemeinschaft hat vielleicht gelernt – aber der afghanische Präsident hat ebenfalls gelernt. Und da es jetzt erklärte Politik ist, die Verantwortung in die Hände der Afghanen zu übergeben, konnte man nicht viel mehr erwarten. Die Internationale Gemeinschaft hat sich bei diesen Wahlen weitgehend zurückgehalten. Und ich denke, bei der Interpretation der Ergebnisse muss man Fehler der Vergangenheit feststellen, im Übrigen aber versuchen, in Zukunft die Demokraten in Afghanistan zu unterstützen, dauerhaft und auch ohne militärischen Schutz. Darauf sollten wir uns konzentrieren.

Ist es ein Signal in diese Richtung, wenn man Solidarität mit den demokratisch gesinnten Kräften demonstriert?

Es ist ein Signal dahin, dass die Internationale Gemeinschaft weiß, dass es eine Zivilgesellschaft in Afghanistan gibt – egal wie stark oder schwach. Diese Menschen wollen Wahlen und sind bereit, dafür einiges zu riskieren. Diese Menschen muss man unterstützen, auch wenn man die staatlichen Strukturen unter Umständen weniger unterstützen sollte. Das hat für die deutsche Politik eine ganz konkrete Konsequenz: Wir unterstützen in Afghanistan immer staatliche Strukturen, aber vielleicht sollten wir uns darauf konzentrieren, direkte Unterstützung über die zahlreichen Organisationen der Zivilgesellschaft zu leisten – oder über die multilateralen Organisationen der Vereinten Nationen.

Was hat die Internationale Gemeinschaft insgesamt in Afghanistan falsch gemacht?

Eine ganze Menge, wenn man es jetzt auf die Wahlen bezieht. Man hat insbesondere auf Druck der Amerikaner sehr früh Präsidentschaftswahlen gewollt. Das war sicher falsch. Man hätte das von unten aufbauen müssen: erst Gemeindewahlen, dann Provinzwahlen, und dann erst Parlamentswahlen. Dann hätte man starke Strukturen und einen davon abhängigen Präsidenten gehabt. So ist es genau umgekehrt: Wir haben einen starken Präsidenten und weniger bedeutsame Parlamente. Das neue Parlament wird dem Präsidenten gegenüber wahrscheinlich noch schwächer sein als das alte.

Die Legitimation der Regierung Karsai und des Parlaments tendiert ja, wenn man einige Kritiker befragt, quasi gegen Null. Was ist falsch gelaufen? Kritiker sagen, dass ein vom Krieg zerrüttetes Land wie Afghanistan mit seinen unzureichenden und intransparenten Strukturen die Milliarden an Aufbauhilfen der Geberländer gar nicht verarbeiten kann - selbst wenn es dort keine Korruption geben würde. Müsste man nicht an dieser Stelle ansetzen?

Es stimmt nicht, dass die Legitimation gegen Null tendiert. Die Legitimation ist geschwächt, aber es gibt niemanden, der mehr Legitimation hätte. Das ist auch schon mal ein Fakt. Und es gibt ein Patt zwischen den Warlords auf der einen Seite und demokratischen Tendenzen auf der anderen. Man hatte geglaubt, dass man durch die internationale Präsenz dieses Patt langsam in Richtung der Demokraten bewegen könnte. Das ist offenbar nicht gelungen. Es ist aber ein Ziel, bei dem man bleiben muss.

Braucht man dafür zwangsläufig viel Geld?

Man braucht Geld, denn Afghanistan ist ein sehr armes Land. Aber vor allem braucht man eine klare politische Linie, und die vermisse ich. Die Menschen im Land sind im Durchschnitt 18 Jahre alt. Das bedeutet, dass der Bildung an Schulen und Universitäten eine zentrale Bedeutung zukommt. Ich werde nicht müde zu sagen: Konzentriert Euch vor allem anderen auf die Ausbildung der jungen Generation. Und zwar auf allen Ebenen. Das könnte dann auch wieder liberale und demokratische Kräfte stärken. Da haben wir eine große Zukunft, denn genau das erwarten die Afghanen von uns Deutschen.

In den Zeitungskommentaren nach dem Wahlwochenende sind Begriffe gefallen wie "Schein-Demokratie" oder "Fassaden-Demokratie". Kann es sich der Westen leisten, diese „Schein-Demokratie“ - also das System Karsai - weiterhin zu unterstützen?

Also der Ausdruck "System Karsai" ist vielleicht ein bisschen zu grob. Es gibt niemanden, der mehr Legitimation hätte als er. Und es gibt auch wenig Alternativen. Und auch in anderen Ländern, die wir unterstützen, sind die Wahlvorgänge nicht perfekt – beispielsweise im US-Bundesstaat Florida bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2004. Also da muss man ein bisschen vorsichtig sein, denke ich. Was man nicht vergessen darf ist, dass in Afghanistan eine politische Kontroverse tobt zwischen autoritären und liberalen demokratischen Strukturen. Da gilt es Partei zu ergreifen. Das muss man immer wieder tun, und zwar möglichst bald mit zivilen Mitteln.

Tom Koenigs ist Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90 / Die Grünen. Außerdem ist er Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses des Bundestages. Von 2006 bis 2007 war er UN-Sondergesandter in Afghanistan.

Das Gespräch führte Thomas Kohlmann
Redaktion: Esther Broders