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Interview mit Dieter Graumann

8. Februar 2011

Mit der Wahl von Dieter Graumann hat es an der Spitze des Zentralrats der Juden auch einen Generationswechsel gegeben. Der Sechzigjährige setzt neue Akzente. Ein Gespräch über Juden, Muslime, Deutschland, Europa, Ägpten.

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Der neue Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, am 28.11.2010 nach seiner Wahl in Frankfurt am Main vor Journalisten. Foto: Arne Dedert dpa/lhe +++(c) dpa - Bildfunk+++
Bild: picture-alliance/dpa

DEUTSCHE WELLE: Man spricht seit geraumer Zeit von einer "Renaissance des Judentums" in Deutschland, Ursache dafür war die – politisch gewollte - Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion. Nach all den Jahren – was bleibt aus Ihrer Sicht zu tun?

Dieter Graumann: Noch viel - aber wir sind auf einem wunderbaren Weg. Diese Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion haben uns die numerische Basis gegeben, um jüdisches Leben überall in Deutschland wieder auf eine ganz neue Ebene katapultieren zu können. Neue Zentren, neue Synagogen, neue Rabbiner - auf der jüdischen Landkarte finden wir überall wieder Gemeinden und das ist eine große Ermutigung. Jetzt geht es darum, dass wir zusammen wachsen. Denn die Menschen, die neu zu uns gekommen sind, verändern sich hier, aber sie verändern auch uns, sie verändern die Struktur, die politische und soziale Architektur der jüdischen Gemeinschaft. Wir müssen nicht das Judentum neu erfinden, aber wir müssen uns selbst neu finden, uns ganz neu positionieren. Und wir bauen eine neue Gemeinschaft auf, das neue, plurale Judentum in Deutschland.

Nun sind viele der neu Hinzugekommenen gar nicht organisiert in den jüdischen Gemeinden, andere sind zu liberalen Gemeinden gegangen. Spricht der Zentralrat, sprechen Sie noch für alle?

Ja, genau das machen wir – und nur wir. Der Zentralrat ist keine religiöse, sondern eine politische Organisation. Wir sprechen daher politisch für alle Juden in Deutschland. Und das soll auch so bleiben. Das wird natürlich schwieriger mit der größeren Zahl, wir werden heterogener, die zentrifugalen Kräfte werden stärker, auch die Kräfte, die uns manchmal auseinander treiben wollen. Bei uns soll aber politisch zusammen bleiben, was zusammen gehört. Wir sehen ja gerade auf der muslimischen Seite, wie schwer es ist, wenn es sehr viele einzelne "communities" gibt und der Repräsentationsgrad sehr umstritten ist. Wir hingegen haben einen Repräsentationsgrad von um die 99 Prozent, das ist doch nicht wenig.

Mahnen ja, Mahnsinn nein

Die traditionelle gesellschaftliche Rolle des Zentralrates war immer die eines Mahners und Warners. Mahnen dazu, den Holocaust nicht zu vergessen, warnen vor neuem Antisemitismus. Gilt das so auch für Sie - oder muss sich der Zentralrat vor dem Hintergrund der Veränderungen etwas Neues einfallen lassen?

Wir werden weiter erinnern an das, was früher war. Nicht in dem Sinne, dass wir den Menschen in Deutschland heute Schuld zusprechen wollen. Aber es geht um die Verantwortung, wissen zu wollen, um ähnliches in der Zukunft verhindern zu können. Wir werden uns auch weiter einsetzen für all das, was uns am Herzen liegt, mit Feuer und Leidenschaft. Darauf kann sich jeder verlassen. Aber: Judentum ist noch viel mehr. Judentum darf sich nicht im "Mahnsinn" erschöpfen. Wir Juden wollen nicht nur zeigen, wogegen wir sind, sondern auch wofür. Wir wollen nicht nur immer kritisieren, sondern auch inspirieren. Wir müssen die Schätze des Judentums klarer hervorheben – erst einmal für uns selbst, und dann auch für andere.

Dialog mit den Muslimen

Heute wird ja – zum Glück – weniger über die Schwierigkeiten mit jüdischen Zuwanderern diskutiert, als vielmehr über Muslime, über große Moscheebauten, über Integrationsprobleme. Wie steht es um den Dialog zwischen Juden und Muslimen in Deutschland? Sie haben sich ja kürzlich mit Repräsentanten des Zentralrats der Muslime getroffen.

Ich wollte den Dialog nicht nur ankündigen, sondern sofort beginnen, und das haben wir getan. Wir haben vor drei Wochen zwei sehr prominente muslimische Vertreter in unser Direktorium des Zentralrats eingeladen und hatten dort eine sehr muntere, spannende, offene Diskussion. Es gibt Unterschiede, es gibt Gemeinsamkeiten. Wir Juden setzen uns ein für die Freiheit und Belange der muslimischen Menschen in Deutschland. Wir setzen uns nicht nur für uns selber ein, sondern für alle Menschen, die ausgegrenzt und diskriminiert werden.

Tun das umgekehrt auch die Vertreter des Zentralrats der Muslime oder andere muslimische Gruppen in Deutschland?

Da und dort, mag sein. Aber ich denke, das ist noch ein ganzes Stück steigerungsfähig. Wir haben gerade in diesen Tagen den Fall, dass wir einen bösen Film in den deutschen Kinos haben – "Tal der Wölfe-Palästina" – ein Film, der Hetze und Hass transportiert, ein Film, der Gewalt verherrlichend ist, der Filmsaal wird quasi zum Ort von Hasspredigten, hier wünschte ich mir schon wenigstens eine einzige Stimme einer muslimischen "community", bis jetzt sind sie sehr still – aber vielleicht kommt es noch.

Ägypten - eine Chance für die Freiheit

Das neue Phänomen eines muslimischen Antisemitismus kommt häufig im Gewand der Israelkritik, der Kritik an der israelischen Regierung daher. Für wie gefährlich halten Sie diese Entwicklung auch hier bei uns?

Ich glaube, das muss man differenziert sehen. Kritik an israelischer Politik ist immer legitim. Auch in Israel selbst wird laut debattiert über das, was richtig und falsch sein mag. Und das dürfen andere natürlich auch. Auch Muslime selbstverständlich, daran ist nichts auszusetzen. Etwas ganz anderes ist, wenn die Kritik umschlägt in blanken Hass, wenn Israel generell delegitimiert wird, wenn gar alle Juden auf der Welt verantwortlich gemacht werden, in Generalhaftung genommen werden. Wer so weit geht, der hat dann allerdings die Grenze zum Antisemitismus schon lange überschritten.

Die arabische Welt ist in Aufruhr, Tunesien, Ägypten, Jemen und andere Länder. Sehen Sie dies mit positiven oder eher gemischten Gefühlen?

Ich glaube, alles zusammen muss man das als große Chance sehen. Wenn Menschen aufstehen, um für die Freiheit zu kämpfen, dann müssen unsere Herzen und Wünsche bei ihnen sein. Und das sind sie auch. Wir wünschen uns natürlich Freiheit und Toleranz überall auf der Welt, auch in den arabischen Ländern. In Ägypten gibt es allerdings die Gefahr, dass Islamisten die Regierung irgendwann übernehmen könnten. Und wenn Sie an das Teheraner Beispiel denken, 1979, da war es auch eine Revolution, die ein schlimmes Regime gestürzt hat. Heraus gekommen ist aber eines, das noch viel, viel schlimmer ist, das Terror und Hass in die ganze Welt transportiert. Aber: Ich glaube, wir sollten hier die Chancen sehen. Wenn Menschen die Mauer der Unfreiheit einreißen wollen, dann sind unsere Gefühle bei ihnen. Wir hoffen sehr, dass sich Demokratie und Toleranz Bahn brechen, die Bevölkerung dort in Würde und Freiheit leben kann und dass die Menschenrechte zum Zug kommen.

Offensiver gegen Antisemitismus in Europa

In vielen anderen europäischen Ländern gibt es angesichts von Pöbeleien und Übergriffen Unbehagen, auch Angst in der jüdischen Gemeinschaft - in den Niederlanden, Frankreich, Schweden oder Ungarn. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Es stimmt, der Antisemitismus in Europa scheint überall stärker zu werden, es gibt schreckliche Beispiele. Sie haben Ungarn genannt, im letzten Jahr hat dort die Partei Jobbik mit einem Programm, das nicht versteckt, sondern offen und stramm antisemitisch war - sich auch gegen Sinti und Roma wandte - landesweit 15 Prozent der Stimmen bekommen. Oder schauen Sie in unser wunderschönes Nachbarland Österreich. In Wien hat die FPÖ mit dem schrecklichen Slogan "Mehr Mut für unser Wiener Blut" 25 Prozent bekommen. Jeder vierte Mensch in Wien hat diesen Slogan und die dahinter stehende menschenverachtende Aussage für gut befunden. Daran sehen wir doch, wie die Gefahren sind. In Deutschland ist es bei weitem nicht so schlimm. Hier wünsche ich mir zwar die NPD verboten - sie ist immer noch zu stark - aber wenn wir uns ansehen im Vergleich zu dem, was sich anderswo in Europa tut, dann ist das in Deutschland sogar noch relativ milde.

Finden die Juden mit ihren Anliegen ausreichend Gehör in der Mehrheitsgesellschaft?

In Deutschland können wir uns nicht beklagen. Hier leben Juden schon seit 1700 Jahren, noch nie in dieser ganzen langen Zeit haben sie hier so sicher und frei leben können wie gerade jetzt. Das müssen wir anerkennen und würdigen. Anderswo, in Schweden, in Holland, sind es häufig muslimische Menschen, die angeblich Juden bedrängen. Der Antisemitismus - gerade unter jungen Muslimen - wird leider immer stärker. Er muss sehr viel energischer bekämpft werden. Wir tun das schon lange. Hier sind allerdings auch die Verantwortlichen in den muslimischen Gemeinschaften gefragt. Sie müssen bereit sein, viel, viel offensiver dagegen vorzugehen. Aus dieser Verantwortung dürfen wir die Muslime auf gar keinen Fall entlassen. Wir setzen uns immer ein für die Freiheit der Muslime in Deutschland. Aber sie müssen auch den Antisemitismus bekämpfen, auch und gerade wenn das zunächst nach innen unpopulär sein mag.

Das Interview führte Cornelia Rabitz

Redaktion: Conny Paul