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Wir müssen reden!

25. September 2015

Ist Polyamorie das bessere Beziehungskonzept? Ist die Monogamie gescheitert? Beides totaler Quatsch! Glück und Unglück sind überall zu finden.

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Symbolbild Paar Pärchen Seitensprung
Bild: Colourbox/Pressmaster

Anna und Jonathan sind ein Paar. Anna trifft und liebt aber auch Johannes und schläft mit ihm. Und noch mit ein paar anderen. Jonathan hatte bis vor kurzem auch noch eine zweite feste Beziehung. Und Johannes ist seit zehn Jahren mit seiner Freundin zusammen, seit einiger Zeit sind die beiden verlobt. Niemand macht hier irgendetwas heimlich. Alle wissen voneinander und kennen sich sogar. Anna, Jonathan und Johannes leben polyamor, sie führen also mehrere Liebesbeziehungen parallel. Und das geht nur, da sind sich alle einig, wenn man in der Lage ist, schonungslos offen miteinander zu reden. Geheimnisse gibt es hier nicht.

In der Praxis von Uwe Mallin sitzen die, die es mit der Heimlichtuerei versucht haben und fremdgegangen sind. Und die entweder aufgeflogen sind oder die das schlechte Gewissen auf die Couch des Psychotherapeuten getrieben hat. Jeder zweite Deutsche soll es mit der Monogamie nicht so genau nehmen und hat seinen Partner schon mal betrogen. "Von Natur aus ist der Mensch polygam", sagt Mallin. Die Monogamie sei ein kulturelles Ideal. Ein Ideal, an dem die meisten von uns zwar sehr hängen und doch immer mal wieder der Versuchung erliegen, aus der Enge der exklusiven Zweisamkeit auszubrechen.

Ist die Monogamie gescheitert?

Auf den Tischen des Polyamorie-Treffs in Köln liegen Flyer, auf denen etwas von "Beziehungsanarchisten" steht. Das klingt, als sei Polyamorie eine Widerstandsbewegung. Erik ist 35, er hat Psychologie studiert und sowohl monogame als auch polyamore Partnerschaften geführt. "Meine längste Beziehung hat ungefähr eineinhalb Jahre gedauert, " erzählt er. Hat die Qualität einer Beziehung also vielleicht doch weniger mit der ihr zugrunde liegenden Konzept zu tun als mit der Fähigkeit, sich wirklich auf einen Menschen einzulassen?

Köln - Polyamorie Treff
Der Flyer des Kölner Poly-Treffs wirft Fragen aufBild: DW/J. Vergin/poly-koeln.de

Der Psychotherapeut Mallin vermutet, dass es denen, die in polyamoren Beziehungen leben, häufig am Willen und an der Fähigkeit mangelt, sich zu binden. "Wenn eine Beziehung eng, nah und verbindlich wird, entsteht häufig ein Fluchtreflex." Eine monogame Beziehung sei eben eng, damit müsse man umgehen können. Und tatsächlich gibt es die, denen die Polyamorie da gerade recht kommt, weil sie die Unfähigkeit, sich tiefer mit einem Menschen auseinanderzusetzen legitimiert. "Für eine wirklich feste Beziehung mit Hochzeit und Kindern fühle ich mich noch nicht bereit", gibt Erik zu.

Polyamorie bedeutet nicht, dass jeder einfach tut, was er will. Anna, Jonathan und Johannes erzählen einander nicht nur von ihren anderen Lieben, sondern sprechen auch über ihre Ängste und Eifersucht. Johannes stellt sich immer wieder die Frage, ob ihm das, was er oder seine Freundin macht, gut tut. Er verfolgt weder stur das eine noch das andere Konzept. Vom Begriff Polyamorie hat er bis eben noch nie gehört. "Wenn ich merke, dass es mir nicht gut geht, dann äußere ich das. Und ich habe mir das Recht erbeten, zu bestimmten Dingen, die meine Freundin tun möchte, nein zu sagen." Bisher habe er von diesem Recht allerdings noch keinen Gebrauch gemacht. Umgekehrt würde Johannes monogam leben, sollte das für seine Freundin jemals wichtig werden. Dadurch, dass die beiden nicht nur alles miteinander besprechen, sondern auch Rücksicht auf die Bedürfnisse des anderen nehmen, kommen sie sich immer näher, sagt Johannes.

Polyamorie: Macht hier jeder, was er will?

Wie wichtig es gerade in einer polyamoren Beziehung ist, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche im Blick zu behalten, haben Anna und Jonathan gerade am eigenen Leib erfahren. Jonathans zweite Freundin ist im Frühjahr für zwei Monate aus Frankreich zu ihm nach Bonn gezogen. Anna hat sich in dieser Zeit stark zurückgezogen und der anderen Frau den Vortritt gelassen. Im Verlauf dieser zwei Monate hatten Jonathan und Anna sehr wenig Kontakt, zu wenig, um ausreichend sprechen und am Leben des anderen teilhaben zu können. "Es hat ein paar Situationen gegeben, in denen ich mir gewünscht habe, Jonathan wäre da", gibt Anna zu. Gesagt hat sie nichts. Und Jonathan war damit beschäftigt, sich um seine andere Freundin zu kümmern, die seine volle Aufmerksamkeit einforderte. Jetzt sprechen die beiden davon, irgendetwas sei verloren gegangen. Die Nähe, vielleicht auch das bedingungslose Ja füreinander. Von seiner zweiten Freundin hat Jonathan sich nach den zwei Monaten getrennt. Anna und er reden nun wieder viel und über alles. "Meiner Meinung nach ist das das Geheimnis einer jeden Beziehung, egal ob polyamor oder monogam", sagt Jonathan. "Es ist schön, dass wir nicht einfach aufgeben", findet Anna. Sie meint, in monogamen Beziehungen würden sich viele Fragen gar nicht erst gestellt. Ob es nicht trotzdem einen gemeinsamen Weg geben kann, selbst wenn sich einer der Partner verliebt hat. "Da ist dann ganz schnell von Trennung die Rede."

Die Psychologin und Psychotherapeutin Gisela Wolf sagt, gerade polyamor lebende Menschen bräuchten eine besonders ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit. Damit eine solche Partnerschaft funktionieren kann, müssten sich alle wirklich wohl fühlen, dann sei nichts dagegen einzuwenden. "Man kann in einer polyamoren Beziehung genauso glücklich oder unglücklich sein wie in einer monogamen Partnerschaft", so die Expertin. Das bedeutet aber auch, dass es kein Patentrezept für eine glückliche Beziehung gibt. Und deshalb bleibt jedem Menschen nur der Blick nach innen und die wiederholt gestellte Frage: was brauche ich, damit es mir gut geht? Diese Innenansichten sollte man mit dem Partner teilen, ganz unabhängig vom Beziehungskonzept. "Geheimnisse sind es, die uns häufig krank machen", ist Wolf sicher.

Glück gibt es überall, Unglück auch

Vielleicht ist es das, was sich monogam lebende Paare von den Vielfachliebenden abschauen können: ehrlich miteinander reden. Auch über die unangenehmen Dinge, wenn sich ein Partner verliebt, beispielsweise. Laut einer Umfrage des Online-Datingportals parship allerdings halten nur 40 Prozent absolute Ehrlichkeit für den wichtigsten Faktor einer erfolgreichen Beziehung. Das ist nachvollziehbar. Denn absolute Ehrlichkeit erfordert Mut. Die Angst, verletzt zu werden und nicht bekommen zu können was man sich wünscht, muss überwunden werden. Noch mehr Mut erfordert womöglich die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Denn dann tritt eventuell zutage, dass der streng monogam Lebende sich nach sexueller Freiheit sehnt. Und der überzeugte Polyamorist entdeckt vielleicht, dass er seine Frau lieber doch für sich alleine hätte. Tja, blöd. Aber es hilft nichts. Wer nicht ehrlich spricht, verliert entweder seine Beziehung oder sich selbst.

DW Mitarbeiterportrait | Julia Vergin
Julia Vergin Teamleiterin in der Wissenschaftsredaktion mit besonderem Interesse für Psychologie und Gesundheit.