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"Wir sind Chile"

13. Oktober 2010

Die Rettung der Bergleute aus der San José Mine hat ganz Chile in einen Freudentaumel versetzt. Präsident Piñera muss verantwortungsvoll mit dem neuen Wir-Gefühl im Land umgehen, meint Mirjam Gehrke in ihrem Kommentar.

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Bild: DW

33 Familien haben ihre Ehemänner, Väter, Söhne und Brüder wieder - für sie beginnt das Leben jetzt zum zweiten Mal. Das ganze Land feiert seine Helden - und damit sich selbst. Chile ist stolz auf die psychische Stärke, das Durchhaltevermögen und die Tapferkeit der Kumpel, die nach dem Einbruch der Mine am 5. August zunächst über zwei Wochen lang in der Ungewissheit überlebt haben, ob sie überhaupt gefunden würden. Selbst Bergbauminister Laurence Golborne hatte zwischenzeitlich daran gezweifelt - was ihm bittere Kritik von allen Seiten eingebracht hat. Zum Glück hat er sich geirrt.

Geschicktes Medienmanagement

Optimismus und Selbstvertrauen war die Devise, die kaum einer so überzeugend verkörpert hat wie der chilenische Präsident Sebastián Piñera selbst. Und die Rechnung ist für ihn aufgegangen: Nachdem seine Popularitätswerte in den ersten Monaten nach seinem Amtsantritt deutlich gesunken waren, konnte er jetzt gut zehn Punkte wieder gut machen. Immer wieder hat er sich im "Camp der Hoffnung" oberhalb der Mine bei den Angehörigen blicken lassen.

Die Bilder vom Präsidenten, der die wartenden und bangenden Frauen umarmt und ihnen Mut zuspricht, der sich mit den Ingenieuren bespricht und immer auf dem Laufenden ist über den Stand der Rettungsbohrung: All das hat seinem Image gut getan. Piñera - der Macher, der nah bei den Menschen ist. Er habe beobachtet, wie US-Präsident Barack Obama das Krisenmanagement der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko entglitten ist, sagen Insider, und er habe daraus gelernt.

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Mirjam GehrkeBild: DW/Christel Becker-Rau

Doch die perfekte Inszenierung hat auch ihre unschönen Details. So war bereits in den frühen Morgenstunden des 22. August klar, dass die 33 Mineros am Leben und wohlauf waren. Doch aus dem Präsidentenpalast in Santiago kam die Order, die gute Nachricht, auf die ganz Chile so sehnlich wartete, zurückzuhalten, bis Piñera an der Mine eingetroffen sei. Das sollte seine Sternstunde sein. Der Präsident weiß um die Macht der Bilder. Es wird sich in das kollektive Gedächtnis Chiles einbrennen, wie er die ersten geretteten Kumpel in den Arm nimmt.

Gewinner und Verlierer

Aber neben den Gewinnern dieses Dramas - allen voran natürlich die geretteten Bergleute und ihre Familien selbst, aber eben auch die Regierung und der staatliche Bergbaukonzern Codelco, der mit modernster Technologie die Rettung ermöglicht hat - muss man auch die Verlierer benennen. Die staatlichen Behörden haben eklatant versagt bei der Überwachung der Einhaltung von Sicherheitsstandards. Der chilenische Bergbau ist die Stütze der Wirtschaft, das Land ist der weltgrößte Kupferproduzent. Ein derart verantwortungsloser Umgang mit der Sicherheit der Menschen, die den Reichtum Chiles unter zum Teil extremen Bedingungen erarbeiten, ist nicht länger hinnehmbar.

In der Mine San José hatten sich in der Vergangenheit bereits mehrere tragische Unfälle ereignet. Nach einem Todesfall war sie aus Sicherheitsgründen vor drei Jahren geschlossen worden. Anfang dieses Jahres dann gaben die staatlichen Behörden dem Druck der Privatwirtschaft nach und erlaubten die Förderung in den unsicheren Stollen wieder. Ausgerechnet Bergbauminister Laurence Golborne war es, der die Bedenken der Gewerkschaft als unbegründet vom Tisch wischte.

Bessere Arbeitsbedingungen

Zu Recht hat Mario Sepúlveda, der zweite gerettete Kumpel, in seinem ersten Interview unmittelbar nach seiner Rückkehr an die Erdoberfläche grundlegende Veränderungen in der Industrie gefordert, um die Rechte der Arbeiter zu schützen. Damit liegt eine große Aufgabe vor Präsident Piñera. Ein entsprechender Forderungskatalog des chilenischen Gewerkschaftsdachverbandes CUT liegt bereits auf seinem Schreibtisch. Jetzt muss der Self-Made-Milliardär und Unternehmerfreund zeigen, wem der von ihm proklamierte neue Regierungsstil nützen soll: den reichsten zwanzig Prozent des Landes, die ihn als Wahrer ihrer wirtschaftlichen Privilegien sehen, oder allen Bevölkerungsschichten.

Chile ist zusammengerückt

In der Sorge um die 33 Kumpel und in dem Freudentaumel über ihre Rettung sind die Menschen in Chile in den vergangenen zwei Monaten bereits emotional eng zusammengerückt. Und der Stolz auf die menschliche und technische Meisterleistung hat für ein neues Wir-Gefühl in dem auch zwanzig Jahre nach dem Ende der Diktatur noch immer tief gespaltenen Land gesorgt. Damit muss Präsident Piñera jetzt verantwortungsvoll umgehen.

Autorin: Mirjam Gehrke

Redaktion: Frank Wörner