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"Opfer sichtbar machen"

Andrea Grunau8. Juli 2013

Wie die NSU-Morde werden auch andere Taten von Rechtsextremisten oft nicht erkannt. Johannes Radke hat mit anderen Journalisten über Todesopfer rechter Gewalt recherchiert. Im DW-Interview erläutert er die Ergebnisse.

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Mit Kerzen in den Händen gedenken Menschen am 6.12.2000 in Eberswalde des von Neonazis getöteten Angolaners Amadeu Antonio (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Was weiß man über die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland?

Johannes Radke: Wir sind bei unseren Recherchen auf 152 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 gekommen. Die Bundesregierung zählt aber bis heute nur 63 Todesopfer rechter Gewalt. 89 Toten und ihren Angehörigen wird nicht zugestanden, dass sie Opfer einer rechtsextremistisch motivierten Mordtat waren.

Wie kann man das erklären?

Das fragen wir uns oft, weil manche Fälle so eindeutig sind. Grundsätzlich ist es wohl ein bürokratisches Problem. Die Landeskriminalämter notieren, ob es eine rechtsextreme Tat war. Das Bundeskriminalamt (BKA) sammelt die Zahlen, erst dadurch kommen sie in die offizielle Statistik. Wenn aber ein Mord passiert und der erste Polizist am Tatort schreibt in seinem Bericht nichts von einer rechtsextremen Tat, dann fällt die meistens schon heraus.

Oder ein Richter in einem Prozess traut sich nicht zu sagen, "das war eine rechtsextreme Tat", weil das ein Grund sein kann, das Urteil anzufechten. Wir hören inoffiziell, dass ein Richter sagt, "ich verurteile lieber jemanden eindeutig für eine schwere Körperverletzung mit Todesfolge als zum Beispiel für einen rechtsextremen Mord". Wenn man den nicht sehr genau belegen kann, kann der Anwalt des Täters sagen: "Mein Mandant hat zwar getötet, aber nicht aus niederen Beweggründen wie Hass auf Ausländer. Das war nur eine Streitigkeit, die ausgeartet ist." Dann kann ein Anwalt in Revision gehen.

Wann genau sprechen Sie als Autorenteam von rechtsextremer Gewalt?

Wir untersuchen nur Taten, wo es ein Gerichtsurteil gab und nehmen nur die Fälle auf, bei denen wir uns ganz sicher sind. Wir lesen die Urteile, sprechen mit Angehörigen, Anwälten oder Richtern und schauen ganz genau, was passiert ist. In einem Urteil liest man beispielsweise, dass ein Obdachloser umgebracht wurde. Danach wurden ihm fünf Euro geklaut. Der Richter sagt: "Das war ein Raubmord." Wenn aber im Urteil steht, die Täter haben geschrien, als sie ihn totgetreten haben: "Du asoziale Sau, Du gehörst nicht in unsere Stadt!", sagen wir, das ist ganz klar ein rechtsextremes Tatmotiv: Hass auf Obdachlose, das war mit entscheidend für diesen Mord.

Welche Menschen werden besonders häufig zu Opfern rechter Gewalttäter?

Das sind vor allem sozial Randständige wie Alkoholkranke oder Obdachlose. Es gibt ganz schlimme Geschichten, wo Neonazis mit dem späteren Opfer zusammen einen ganzen Abend zechen und am Ende plötzlich auf die Idee kommen: Jetzt schlagen wir den halb tot und dann zünden wir den Sterbenden an. Wir sehen sehr stark die Abwertung des anderen. Die Neonazis sind vielleicht selbst arbeitslos oder Alkoholiker. Sie suchen ein Opfer, von dem sie sagen, das ist ein "Asozialer".

Bei der zweitgrößten Gruppe geht es um das klassische Motiv Rassismus, also einfach Ausländerhass oder Hass auf vermeintliche Ausländer. Der trifft auch normale Deutsche mit einem deutschen Pass, die bloß eine andere Hautfarbe haben.

Hat sich nach dem Auffliegen der Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) etwas an der öffentlichen Wahrnehmung geändert?

Wir merken, dass die Nachfrage nach unserer Liste, die Frank Jansen und Heike Kleffner vor über zehn Jahren begonnen haben, nach dem NSU sehr gestiegen ist. Leider hat sich das nicht durchgesetzt bis zu allen Landesregierungen. Im Osten Deutschlands hat sich ein bisschen was getan. Sachsen hat zwei Opfer, Sachsen-Anhalt hat drei Opfer nachträglich anerkannt und in Brandenburg gibt es eine Prüfung.

Aber Nordrhein-Westfalen (NRW) zum Beispiel weigert sich vehement, Opfer anzuerkennen, obwohl viele Fälle eindeutig sind. Erstes Beispiel: Im Jahr 2000 erschoss der bekennende Neonazi Michael Berger in Dortmund und Waltrop drei Polizisten aus seinem Auto heraus - ein klarer Mord eines Neonazis aus Hass auf diesen Staat. Die drei Polizisten stehen bis heute nicht als Opfer rechter Gewalt in offiziellen Listen.

Die Bilder der getöteten Polizeibeamten (v.r.) Thomas Goretzki, Yvonne Hachtkemper und Matthias Larisch von Woitowitz bei der Trauerfeier im Jahr 2000 (Foto: dpa)
Gedenken an die im Jahr 2000 in Nordrhein-Westfalen von einem Neonazi getöteten PolizeibeamtenBild: picture-alliance/dpa

Zweites Beispiel: Ein bekannter Neonazi ging 2003 in Overath bei Köln in die Kanzlei des Anwalts Hartmut Nickel. Er erschoss den Anwalt, seine Frau und die Tochter. Am Hemdkragen trug er Runen der nationalsozialistischen "SS". Am Tag nach der Tat entwarf er ein Flugblatt, auf dem stand: "Deutsches Volk - die Befreiung des Reichsgebietes hat begonnen." Im Prozess stellte der Richter fest, dass die nationalsozialistische Gesinnung des Täters sein Handeln mit "ungerührtem Vollstrecker-Willen" prägte. Trotzdem werden die drei Opfer nicht anerkannt.

NRW müsste diese Fälle akzeptieren und weitergeben ans BKA, damit sie in die Liste kommen. Bei den NSU-Morden selbst war den Sicherheitsbehörden die ganze Situation wohl so unangenehm, dass das BKA alle zehn NSU-Mordopfer von sich aus anerkannte, weil es so eindeutig war. Aber das war eine Ausnahme.

Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrer Liste?

Es ist ganz wichtig, die tödliche Dimension rechtsextremer Gewalt zu zeigen, die vielen gar nicht bewusst ist. Nach den NSU-Morden wissen zumindest viele, dass Neonazis auch ausführen, was sie in ihrer Ideologie propagieren. Aus rechtsextremer Sicht hat der NSU "unwertes Leben vernichtet".

Wir versuchen, mit unserer Liste zu zeigen, dass es um mehr geht als Hetze, nämlich in letzter Konsequenz um den Mord an Menschen, die nicht in das rechte Weltbild passen. Viele Neonazis sprechen Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder ihres Aussehens das Recht auf Leben ab. Wir lesen oft in Urteilen, dass die Täter die Tat gefeiert haben, die kaufen sich dann Bier und feiern das.

Sie arbeiten eng zusammen mit den Machern der Wanderausstellung "Opfer rechter Gewalt seit 1990" - was kann es bewirken, wenn Besucher dort Fotos und Geschichten der Opfer sehen können?

Es ist wichtig klarzumachen, wen rechtsextreme Gewalt betrifft und wie diese Taten passieren können. Was sind das für Täter? Was ist die Motivation? Es ist auch wichtig, den Opfern ein Gesicht zu geben. Das soll nicht einfach nur der Obdachlose vom Marktplatz sein, sondern diese Opfer haben einen Namen und es gibt meistens ein Bild, das oft schwierig zu beschaffen ist. Das sind wir den Opfern schuldig, sie sichtbar zu machen. Deshalb freuen wir uns auch, wenn aufgrund unserer Recherchen eine Aufarbeitung der Tat geschieht und vielleicht sogar ein Gedenkstein entsteht. In einigen Städten ist das passiert.

Welche Rolle spielt es, dass die Opfer oft Menschen sind, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden?

Das ist das klassische Thema von Neonazis, die sehen sich oft als Vollstrecker des Volkswillens. Das war auch bei den Pogromen gegen Zuwanderer in den 1990er Jahren wie in Rostock-Lichtenhagen ganz stark. Die hatten das Gefühl, wir machen das, was alle gut finden, aber sich nicht trauen, selber zu machen. Die denken, das sind die Aussätzigen der Gesellschaft, da geht es um die "Säuberung" der Stadt. Da muss man sich natürlich auch als Gesellschaft fragen: Wie gehen wir mit solchen Menschen um: mit Obdachlosen, mit sozial Schwachen oder mit Migranten?

Johannes Radke beschäftigt sich als Journalist und Autor seit vielen Jahren mit dem Thema Rechtsextremismus. Gemeinsam mit Toralf Staud, Frank Jansen und Heike Kleffner hat er eine Liste der Todesopfer rechter Gewalt recherchiert, die von den Zeitungen Tagesspiegel und ZEIT veröffentlicht wurde. Im Buch "Neue Nazis" schildert Radke gemeinsam mit Toralf Staud die rechte Szene und die Erscheinungsformen rechtsextremistischen Terrors.

Das Interview führte Andrea Grunau.