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Wo bleibt der politische Anstand?!

Peter Philipp2. Juni 2002

Martin Walser und Jürgen Möllemann sollten aus der Geschichte lernen und das Anheizen antisemitischer Ressentiments unterlassen. Peter Philipp kommentiert.

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"Wer Jude ist, bestimme ich". Mit diesem Spruch ist Karl Lueger mindestens ebenso in die Geschichte eingegangen wie mit seinen Leistungen als Bürgermeister von Wien zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Wie kein anderer verstand er es, "dem Volk aufs Maul zu schauen" und ihm danach zu reden - er war also das, was man heute einen Populisten nennt. Und judenkritische Bemerkungen gehörten mit dazu.

Denn der Antisemitismus hatte schon zu jener Zeit Tradition in Wien. Und nicht nur dort. Dem rhetorisch begabten Bürgermeister bescherten solche ideologisch-rassistischen Bemerkungen die erforderlichen Mehrheiten, die er brauchte, um Gutes für die Stadt zu tun. Und man ist sich bis heute uneins, ob Lueger wirklich Antisemit war oder sich nur des Antisemitismus in der Bevölkerung bediente, um Stimmen zu gewinnen. Sicher jedoch ist, dass in seiner Stadt damals ein anderer Österreicher, nämlich Adolf Hitler, mit solchen Ideen indoktriniert wurde, der knapp drei Jahrzehnte später als deutscher Führer nicht nur Deutschland ins Unglück führte.

Keine hundert Jahre nach Lueger und keine 60 nach dem Holocaust erleben wir nun in Deutschland eine Debatte darüber, was gegenüber Juden zu sagen erlaubt sei und was nicht. Eine Debatte, die deswegen so problematisch ist, weil sie mit vermeintlichen Tabus aufzuräumen vorgibt, die doch aber wirklich keine Tabus sind und nie welche waren. Der Vorwand des Tabu-Bruchs aber soll seinen Autoren Anerkennung und Ansehen einbringen. Konkreter wohl: Wählerstimmen und Auflagensteigerung.

Dabei ignorieren diese angeblichen Tabubrecher, was sie damit anstoßen: Biertisch-Kumpanei übelster Art, nach den Motto: "Das wird man doch wohl sagen dürfen" und "Endlich kommt einer, der den Mut hat, 'denen' die Stirn zu bieten."

'Denen'? Wer sind denn diese dunklen Mächte, die uns Deutsche in den letzten Jahrzehnten angeblich daran gehindert haben, mit Juden und auch mit Israel so umzugehen, wie 'es sich gehört'? Wenn man nicht Anhänger der Verschwörungs-Theorie ist, dass wir ja doch alle unter dem Stiefel einer zionistischen Weltverschwörung stünden, dann gibt es nur eine Antwort: Solche 'dunklen Mächte' gibt es nicht. Es war unsere Einsicht, was da zur Nazizeit in unserem Namen an Ungeheuerlichem geschehen war, und unsere Entschlossenheit, solches nie wieder geschehen zu lassen.

Deswegen - und nicht weil Israel oder sonst jemand es uns diktiert hätte - haben wir politische Bildung in Deutschland betrieben und uns moralische Ziele gesetzt, die einer freiheitlichen Demokratie gut anstehen. Und die uns unseren Platz in der Völkergemeinschaft haben zurückfinden lassen. Auch andere Länder dieser Völkergemeinschaft haben mit Rassismus, Fremdenhass und Antisemitismus ihre Probleme. Und auch Kritik an israelischer Politik war und ist nicht tabu, auch nicht in Deutschland.

Aber beides darf uns nicht als Ausrede dienen, auf dem rechten Auge weniger wachsam zu sein. Anstand, auch politischer Anstand, mißt sich nicht im Vergleich mit anderen. Dies ist kein sportlicher Wettstreit, sondern Anstand ist absolut und sollte universal sein. So, wie die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen gedacht war.Gegen die nicht nur in Deutschland anerkannten Grundregeln solchen politischen Anstandes zu verstoßen, hat nichts mit dem Bruch von Tabus zu tun. Sondern entspringt - im harmosen Fall - dem Mangel an politisch-gesellschaftlichen Feingefühl oder - im schlimmeren Fall - böser Absicht und gefährlicher Demagogie.

Es fällt schwer, den beiden Haupt-Exponenten des jetzt in Deutschland geführten Streits solche Böswilligkeit zu unterstellen. Weil weder der FDP-Vizevorsitzende Jürgen Möllemann noch der Schriftsteller Martin Walser wohl wirklich Antisemiten sind. Nur - wie einst der Wiener Bürgermeister Lueger: Sie sind doch auch im Grunde viel zu intelligent, um nicht zu wissen, dass sie hier mit dem Feuer spielen. Sie sprechen niedere Gefühle und Ideen an, die wir aus unserer Gesellschaft ausgemerzt zu haben glaubten, die aber dennoch vorhanden sind und die viel leichter wiederbelebt werden können, als wir es uns erhofft hatten.

Und schließlich: Antisemitismus und Rassismus haben zu viel Elend hervorgebracht - vor allem durch die deutschen Nationalsozialisten - als dass man heute in Deutschland damit umgehen könnte, als sei dies ein Teil der Vergangenheit und könne sozusagen 'abgehakt' werden. So, wie wir das Positive in unserer Geschichte nicht 'abhaken' können, können wir das auch nicht mit dem Negativen tun. Wer uns anderes vorgaukelt, der weiß nicht, was er sagt oder er rüttelt an der Basis unserer freiheitlichen Demokratie. Was schon zur Zeit Karl Luegers falsch war, sollte nach den Erfahrungen der letzten hundert Jahre heute erst recht falsch und Unrecht sein.