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Gesellschaft

Thierse und die Debattenkultur

6. März 2021

Ein Zeitungsartikel des Sozialdemokraten Wolfgang Thierse über die Form gesellschaftlicher Debatten löst einen Riesenwirbel aus.

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Deutschland Ex-Bundestagspräsident Wolfang Thierse
Bild: Jens Krick/Flashpic/picture alliance

Dass er mit 77 Jahren noch einmal ganz oben auf die Top-Trending-Twitter-Liste kommt, hätte sich SPD-Urgestein Wolfgang Thierse wohl nicht träumen lassen. Dabei hat er nicht einmal ein eigenes Twitter-Konto. Doch der ehemalige Bundestagspräsident, Ex-DDR-Bürgerrechtler und Kämpfer gegen den Rechtsextremismus hatte einen Meinungsartikel verfasst, der die Gemüter stark erhitzt. In dem Gastbeitrag, der am 22. Februar in der eher konservativen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erschien, hatte er eigentlich nur dazu aufgefordert, in der demokratischen Debatte auch die Argumente Andersdenkender anzuhören. 

Wolfgang Thierse stellt in dem Artikel fest, dass "Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender heftiger und aggressiver" geführt würden als früher. Und er stellt die Frage: "Wie viel Identitätspolitik stärkt die Pluralität einer Gesellschaft, ab wann schlägt sie in Spaltung um?" 

Shitstorm gegen Thierse

Er selbst sei der Spalter, sagen nun Kritiker. Vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) wurde ihm "neurechter Sprech" vorgehalten. LSVD-Vorstandsmitglied Alfonso Pantisano, wie Thierse SPD-Mitglied, kritisierte den Beitrag als "reaktionär".

Sogar aus höchsten Parteikreisen: Ablehnung, sogar Fassungslosigkeit. SPD-Parteichefin Saskia Esken und Vizeparteichef Kevin Kühnert zeigen sich "beschämt" über SPD-Vertreter, die ein "rückwärtsgewandtes Bild der SPD" zeichneten. Der Name Wolfgang Thierse fällt zwar nicht; er ist aber gemeint. Tagelang wird sogar über einen Parteiaustritt Thierses spekuliert, den er selbst ins Gespräch gebracht hatte.

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zeigt sich im Interview mit der DW wenig überrascht über die Heftigkeit des Streits: "Aus meiner Sicht ist die Aggressivität gegen Wolfgang Thierse ein scharfer Ausdruck schon länger gärender Prozesse." Gewöhnlich komme diese Art diffamierender Kritik aber eher von "rechts". "Diese Art von Politik erfährt im aktuellen Fall jetzt eine spezifische Ausprägung durch Führungspersonen der Sozialdemokratischen Partei, die sich als 'links' darzustellen versuchen", ergänzt der Soziologe.

Deutschland Wilhelm Heitmeyer Universität Bielefeld
Wilhelm Heitmeyer war Gründer des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni BielefeldBild: Monika Skolimowska/dpa/picture-alliance

Meinungsfreiheit unter Beschuss

Wolfgang Thierse ist einer, der keinem Streit aus dem Weg geht: gradlinig, unbeirrt, manche sagen sogar: hartnäckig bis kauzig. Er hat in der DDR opponiert, hat nach der Wende in der SPD Karriere gemacht: Sieben Jahre lang war er Präsident des Deutschen Bundestages. Er ist einer, der gegen Nazis auf die Straße geht. Und immer hat er eine Meinung.

Das zeigt auch der Text in der FAZ, wo er sich als konservativ denkender Sozialdemokrat zu erkennen gibt: "Ja, wir Weiße haben zuzuhören, haben Diskriminierungen wahrzunehmen. Aber die Kritik an der Ideologie der weißen Überlegenheit darf nicht zum Mythos der Erbschuld des weißen Mannes werden." Die Diskussion verlaufe oft nach dem Motto: "Wer weiß ist, ist schon schuldig." Thierse ist zum Beispiel der Meinung, dass gendersensible Sprache nicht in jedem Fall "gemeinschaftsbildende Kommunikation" erreiche: "Wenn Hochschullehrer sich zaghaft und unsicher erkundigen müssen, wie ihre Studierenden angeredet werden möchten, ob mit 'Frau' oder 'Herr' oder 'Mensch', mit 'er' oder 'sie' oder 'es', dann ist das keine Harmlosigkeit mehr."

Zwischen Meinungsfreiheit und Cancel Culture

Aber genau in diese Grabenkämpfe ist Thierse nun selbst geraten. Dabei hat er nichts anderes getan, als Gebrauch von dem zu machen, was im deutschen Grundgesetz steht: Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik garantiert die Meinungsfreiheit. Dieses Grundrecht schützt die Freiheit, Meinungen frei zu äußern und zu verbreiten.

Deutschland Ex-Bundestagspräsident Wolfang Thierse Demonstration Protest gegen Neonazi-Aufmarsch in Dresden
Thierse bei einem Protest gegen Neonazis in DresdenBild: Arno Burgi/dpa/picture-alliance

"Selbstverständlich" müsse man, wie Thierse das getan habe, in einer Demokratie "solche Debatten aushalten", sagt Wilhelm Heitmeyer. Das dürfe aber nicht nach dem Motto "Entweder-Oder" gehen, sonst seien "Konflikte vorprogrammiert und die gefährlichen Desintegrationsprozesse mit autoritären Versuchungen nehmen zu. Dort liegen dann die Bedrohungen der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie."

In einem Rundfunkinterview sagte Thierse kürzlich, ihm würden nun die "Ansichten eines alten weißen Mannes mit heterosexueller Orientierung" vorgeworfen. Eine Ansicht, die einem nicht passe, werde einfach als "identitär zurückgewiesen" und die Diskussion sei dann eben "erledigt". "Cancel Culture" sei das, so Thierse. Der Begriff bedeutet den Versuch, ein vermeintliches Fehlverhalten, beleidigende oder diskriminierende Aussagen und damit auch die Person öffentlich zu ächten.

Rechts gegen links, jung gegen alt, konservativ gegen progressiv. Die Gesellschaft in Deutschland scheint sich zunehmend zu spalten. Und die sozialen Medien würden diese Prozesse noch beschleunigen, glaubt Heitmeyer. Dort bildeten sich abgedichtete "Echokammern" und "Wir-Identitätsgruppen". Echte Diskurse fänden gar nicht mehr statt, "wenn man so will, ein nichtkommunikativer 'Stellungskrieg'".

In der Auseinandersetzung mit der SPD-Spitze hatte Wolfgang Thierse seinen Austritt aus der Partei ins Spiel gebracht. Ein Telefonat mit SPD-Parteichefin Saskia Esken hat wohl den Konflikt entschärft. Außerdem ist ein klärendes Gespräch in den kommenden Tagen angesetzt. Aber der Streit um die Meinungsfreiheit und deren Grenzen bleibt und hallt in der Gesellschaft und der SPD nach.

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online