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"Wollte sich alte Vorurteile bestätigen lassen"

1. Dezember 2011

Im DW-WORLD.DE-Interview nimmt Yildiz Demirer Stellung zum Streit mit Ministerin Kristina Schröder über eine Studie zum Thema "Zwangsehen in Deutschland". Demirer war Beiratsmitglied bei der Erstellung der Studie.

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Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (li) und Staatsministerin Maria Böhmer (Foto: DW)
Familienministerin Kristina Schröder (li.) bei der Veröffentlichung der Studie mit Staatsministerin Maria BöhmerBild: DW/Jülide Danısman

Das Bundesfamilienministerium hat eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, die sich mit der Situation von Menschen in Deutschland beschäftigt, die von Zwangsverheiratung bedroht oder betroffen sind. Diese Studie wurde am 09.11.2011 veröffentlicht. Dazu wurde ein wissenschaftlicher Beirat ins Leben gerufen, der die Erstellung der Studie begleiten sollte. Bevor das Ergebnis der Studie veröffentlicht wurde, nahm Familienministerin Kristina Schröder am 08.11.2011 - also einen Tag vor der Veröffentlichung der Studie - in einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die Ergebnisse vorweg. Die Mitglieder des Beirats distanzierten sich von den Äußerungen von Kristina Schröder in einem Beitrag der "Süddeutschen Zeitung" vom 28.11.2011 und warfen der Ministerin u.a. vor "Scheinkorrelationen" oder "tendenziöse Darstellungen" zu verbreiten.

DW-WORLD.DE: Was hat die Ministerin in ihrem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" aus der Studie falsch interpretiert?

Yildiz Demirer: Sie hat schon in den Beiratssitzungen gesagt, dass es ihr um den Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit und dem Thema Zwangsehen geht. Deshalb sollte die Religionszugehörigkeit der Ratsuchenden erhoben werden. Angeblich brauchte Frau Schröder dieses Material als Hintergrundwissen für Bundestagsdebatten. Bei der Studie haben wir anonymisierte Notizen und die Erinnerungen von Beratern erhoben – daraus kann man keine Rückschlüsse auf eine angebliche Korrelation zwischen Religion und Zwangsehen ziehen.

Sie heben in der Stellungsnahme in der Süddeutschen Zeitung hervor, dass sie gegen die Erhebung der Religionszugehörigkeit der betroffenen Frauen waren. Wo liegen die "Gründe" für Zwangsverheiratungen?

Die sind sehr unterschiedlich. Meistens gibt es einen patriarchalischen Hintergrund, also eine Familienstruktur, in der der Vater das Sagen hat, in der es auch Gewalt gegen Kinder gibt. Gleichzeitig wird die Bedeutung der "Reinheit" der Frau vor der Ehe immer wichtiger – und zwar in unterschiedlichen Religionen oder Kulturen. Deshalb scheint es sinnvoll, möglichst junge und jungfräuliche Mädchen zwangsweise zu verheiraten und so eine "gute Partie" zu machen.

Gibt es Zwangsverheiratungen nur bei jungen Mädchen?

Nein, es gibt auch Männer, die von Zwangsheirat betroffen sind und auch homosexuelle Menschen. Homosexuelle Menschen sollen zwangsweise verheiratet werden, weil ihre Familien glauben, damit könne diese "Krankheit" bekämpft werden. Viele lesbische Frauen sind in unseren Beratungsstellen, die nicht wissen, wie es weitergeht. Menschen, die in eine Zwangsehe gesteckt werden, haben - wenn sie sich später scheiden lassen wollen – das Problem, dass sie nicht beweisen können, gegen ihren Willen verheiratet worden zu sein. Schließlich wird keiner aus ihrer Familie für sie aussagen. Von diesem Thema wollte Frau Schröder beispielsweise nichts wissen.

Frau Schröder schreibt, im Jahr 2008 hätten die Beratungsstellen in Deutschland 3443 Fälle von Zwangsverheiratungen registriert. Wie relevant ist diese Zahl?

Wir haben sie darauf hingewiesen, dass wir anonyme Beratungen durchführen. Oft werden die Ratsuchenden in eine andere Stadt verwiesen und dort wieder als anonymer Fall aufgeführt. Damit sind Doppel- und Dreifachnennungen programmiert. Deswegen ist diese Zahl nicht aussagekräftig.

Frau Schröder verwendet in ihrem Beitrag die Daten nach religiöser Zugehörigkeit der betroffenen Personen, die von der Studie durch Befragung der Mitarbeiter von Beratungsstellen erhoben wurden. Sie folgert aus diesen Zahlen, dass 83,4 Prozent der Frauen Muslima waren. Auch wenn der Weg der Schlussfolgerung unwissenschaftlich ist, könnte die Aussage nicht trotzdem richtig sein?

Religionszugehörigkeit spielt größtenteils beim Thema "Zwangsverheiratung" keine Rolle. Frau Schröder hat unsere wissenschaftliche Beratung nicht ernst genommen. Es gibt in unserem Land eine Islamophobie, der wir im Beirat keinen Vorschub leisten wollen. Sie bekommt von uns wissenschaftliches Material. Aber anstatt es seriös zu zitieren, kommen derart verkürzte und falsche Äußerungen dabei heraus. Das ist sehr, sehr schade.

Ist es notwendig, wie Frau Schröder schreibt, dass "manche traditionellen Wurzeln endgültig durchtrennt werden müssen?"

Wir müssen keine "traditionellen Wurzeln" zerschlagen, sondern präventive Erziehung an unseren Schulen durchführen, damit zum Beispiel junge Männer ein Frauenbild bekommen, das sich an Gleichberechtigung orientiert. Aber Frau Schröder war von Anfang darauf aus, sich alte Vorurteile bestätigen zu lassen.

Apropos Wurzeln: Aus welchen Ländern kommen Ratsuchende in Ihre Beratungsstellen?

Aus sehr vielen unterschiedlichen Ländern: Italien, Rumänien, Griechenland, Pakistan oder Indien. Patriarchalische Denkstrukturen und Familienverhältnisse gibt es überall und das Problem der Zwangsverheiratungen gibt es eben auch überall.

Die Urheber der Studie beklagen, dass Frau Schröder "antimuslimische Ressentiments" bedient. Woran genau machen Sie das fest?

Ich wollte erreichen, dass es bessere Handlungsmöglichkeiten für die Menschen gibt, die von Zwangsverheiratungen bedroht oder betroffen sind. Nur deshalb habe ich mitgemacht. Aber dazu äußert sich die Ministerin nicht. Ich erwarte von ihr eine differenzierte Darstellung. So aber gibt sie nur falsche Verallgemeinerungen von sich. Das finde ich sehr schade.

Interview: Matthias von Hellfeld

Redaktion: Pia Gram/Manfred Böhm

Yildiz Demirer arbeitet bei KARGAH e.V. - einem Verein für interkulturelle Kommunikation, Migrations- und Flüchtlingsarbeit. Sie war außerdem während der Herstellung der Studie Beiratsmitglied im Bundesfamilienministerium.