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Musik

"Man spürt den Mythos Bayreuth"

Hans Christoph von Bock
23. Juli 2018

Der US-Amerikaner ist für ungewöhnliche Inszenierungen bekannt. Zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele nimmt sich Sharon Wagners "Lohengrin" vor. Vor allem die Rolle der Frau interessiere ihn dabei, sagte er der DW.

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Regisseur - Yuval Sharon Regisseur Lohengrin
Bild: DW/H. C. von Bock

Kritiker beschreiben den US-Amerikaner als "Opernstörer vor Ort" und seine Arbeit als "genial", "virtuos", "schwindelerregend spektakulär" oder "umwerfend". Mit seiner renommierten Theatergruppe "The Industry" sorgte Yuval Sharon durch Inszenierungen auf sich bewegenden Fahrzeugen, Bahnhöfen oder Parkplätzen für ungewöhnliche Theatererlebnisse. Zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele am 25. Juli inszeniert er Richard Wagners "Lohengrin" in Wagners eigenem Theater. Im Gespräch mit der DW gibt er seine Sicht auf das Musikdrama um den einsamen Schwanenritter wieder. 

Deutsche Welle: Viele Menschen, die Wagner mögen, erinnern sich noch genau an den Moment, der sie für immer für seine Musik einnahm. Gab es bei Ihnen auch so ein Schlüsselerlebnis?

Yuval Sharon: Meine erste Begegnung mit Wagner kam relativ früh im Leben. "Siegfried" war die zweite Oper, die ich überhaupt gesehen habe. Ich war 13 Jahre alt und habe mich amüsiert, denn darin kommen ein Drachen und ein Schwert vor. Schwierig war die Länge des Stücks, aber es hat mich irgendwie angesprochen. Ich habe mich aber dann zunächst eher für Film und Theater interessiert. Erst später ist mir dann aufgegangen, was man alles mit Oper machen kann.

Bei Wagner im Speziellen?

Besonders bei Wagner, denn bei ihm gibt es keine strenge Unterscheidung zwischen Arien und Dialogen, sondern seine Musik ist ein einziger Fluss. Allein durch die Länge von fünf oder sechs Stunden haben seine Werke etwas von einem Ritual, etwas Außerordentliches, weit weg vom Alltag. Diese andere Welt auf der Bühne fasziniert mich.

Sie arbeiten viel in den USA. Allgemein sagt man, dass Amerikaner eher konservativere Inszenierungen lieben, während man in Europa aufgeschlossener für kreative Regie-Ideen ist. Ist das ein Klischee, oder ist das wirklich so?

In jedem Klischee steckt eine gewisse Wahrheit. In Amerika hat man einfach weniger Zeit für die Regiearbeit. Ganz besonders in Deutschland merkt man dagegen, wie viel die Entwicklung einer kreativen Idee wert ist. Jede neue Produktion ist ein Versuch, etwas noch nicht Entdecktes in dem Stück ans Tageslicht zu fördern. Hier wird sechs Wochen lang geprobt anstatt, wie in Amerika üblich – auch an großen Häusern –, drei oder vier Wochen. Wenn man dort ans Werk geht, muss man extrem gut vorbereitet sein. Man hat einfach weniger Gelegenheiten, Dinge auszuprobieren. Deshalb habe ich meine eigene Produktionseinheit ins Leben gerufen, wo ich meine eigenen Regeln bestimmen kann.

Bareuth 2018 - Christian Thielemann, Dirigent Yuval Sharon, Regie Rosa Loy & Neo Rauch, Bühne und Kostüm
Das Produktionsteam für "Lohengrin": Dirigent Christian Thielemann, Regisseur Yuval Sharon und die Bühnen- und Kostümbildner Rosa Loy und Neo RauchBild: DW/H. C. von Bock

Sie sind Amerikaner mit israelischen Wurzeln und inszenieren zum ersten Mal eine Oper bei den Bayreuther Festspielen. Wie ist es für Sie, an diesem Ort zu arbeiten, der einst eine Hochburg von Nationalsozialismus und Antisemitismus war?

Es mag vielleicht diplomatisch klingen, aber ganz ehrlich: Ich fühle mich total wohl hier. Diese schwierige Vergangenheit war natürlich eine schlimme Tragödie, und sie hat auch meine Familie getroffen. Aber man merkt, dass die Geschichte hier immer weiter verarbeitet und erforscht wird. Diese schöne Ausstellung am Festspielhügel, genau vor Wagners Büste zum Beispiel: Sie heißt "Verstummte Stimmen", zeigt frühere jüdischen Mitwirkende der Bayreuther Festspiele und erklärt ihre Schicksale. Ich gehe jeden Tag daran vorbei und schaue mir jedes Mal eine andere Tafel an. Ich fühle mich so geehrt, dass ich heute in ihre Fußstapfen treten und als selbständiger Regisseur arbeiten kann, ohne dass das ein Thema sein muss. Bei der Arbeit spielen meine Religion und Herkunft eh keine Rolle. Höchstens beim Gespräch. 

Wie haben Ihre Familie und Ihre Freunde reagiert, als sie gehört haben, Yuval geht nach Bayreuth?

Es gab jetzt keine Kritik. Eher damals, als ich 2001 nach Deutschland kam, um Deutsch zu studieren. Ich wollte Wagner und Brecht und Rilke und vieles mehr aus der deutschen Kultur in der Originalsprache lesen oder hören können. Damals sagten Familienmitglieder: "Warum unbedingt nach Deutschland?" Für sie war es etwas unangenehm. Aber ich habe mich sofort wohl und sehr willkommen gefühlt. Ich habe immer gespürt, dass die Deutschen Versöhnung suchen und eine Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft bauen wollen. Wenn man so offen ist, dann spiele ich sehr gerne mit.

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Lohengrin ist eine Lichtgestalt, die eine vertrackte Situation lösen soll, die endgültige Tragödie aber nicht abwenden kannBild: Otto von Leixner

Sie haben viele zeitgenössische Opern inszeniert. Was interessiert Sie an einem Stück wie "Lohengrin", das schon aberhunderte Male interpretiert worden ist?

Natürlich gab es bereits viele, ganz wichtige Inszenierungen von "Lohengrin". Aber wenn ein Werk gut ist, kommt man nie ganz unten an: Man kann immer tiefer graben und neue Möglichkeiten ausloten, weil das Stück auch unsere Zeit widerspiegeln wird.

Was haben Sie denn im Stück gefunden?

Die Frauen darin kommen mir sehr stark vor. Oft wird gezeigt, dass Elsa durch ihre Neugier alles kaputt macht. Aber ich finde, es geht nicht um ihr Scheitern, sondern um Lohengrins Scheitern. Er erwartet Unmögliches von ihr: nämlich dass sie einen Mann heiratet ohne zu wissen, wer er ist. Kann wahre Liebe entstehen, wenn man den Partner nicht kennen darf? Sie sagt: 'Nein, das geht nicht.' Dieser Punkt ist die Keimzelle für eine Gesellschaftskritik. Jemandem blind vertrauen und gehorchen: In unserer Gesellschaft geht das nicht.

Was ist Elsa im Kontext der heutigen Diskussion um #MeToo und 'Time's Up' für eine Figur?

Elsa kann man als eine Frau sehen, die sich selbst befreit. Im ersten Akt braucht sie Hilfe von außen, eine Rettung. Im dritten Akt ist sie jedoch stark genug, um auf ihren eigenen Beinen zu stehen. Obwohl das Stück ein Märchen ist, hat es eine konkrete Botschaft. Spannend ist auch die Auseinandersetzung zwischen Elsa und Ortrud (Anmerkung d. Red: Ortrud ist die Frau des Grafen Telramund . Beide Frauen sind sehr, sehr stark. Die Männer dagegen sind zwar nicht schwach, sie sind aber korrumpiert. Es geht um den Konflikt zwischen Macht und Liebe, denselben Konflikt, den man auch in Wagners "Ring des Nibelungen" findet. In "Lohengrin" gibt es Machtgier überall: bei Telramund, beim König – und natürlich auch bei Ortrud. Der Gegenpol ist diese befreiende Liebe, die Elsa eigentlich verkörpern könnte, wenn sie den richtigen Partner hätte. Lohengrin ist leider nicht der Richtige für sie.

Richard Wagner Karikaturen
Obwohl "Lohengrin" eine Tragödie ist, gaben die Aufführungen oft Anlass zu Spott: wie hier in Paris 1891Bild: picture alliance/akg-images

Sie sind sehr spät ins Regieteam eingestiegen. Bühnenbild und Ästhetik waren bereits durch den bekannten Maler Neo Rauch und seine Frau Rosa Loy ziemlich gesetzt. Wie konnten Sie sich noch einbringen?

Diese Arbeitsweise war natürlich etwas anders als normal. Ich hatte schon eine starke ästhetische Idee, und Neo und Rosa waren total begeistert davon, dass ihre Arbeit bis dato keinen Endpunkt, sondern einen Ausgangspunkt markierte. Ich habe zugehört und den beiden dann eigene Ideen angeboten. Manche haben ihnen gefallen, manche nicht. Dadurch ist ein sehr schöner und sehr konstruktiver Dialog entstanden.

Was setzen Sie beim Publikum voraus? Muss man das Werk "Lohengrin" gut kennen, um Ihrer Interpretation etwas abzugewinnen?

Ich sehe mich selbst immer noch als den 13-Jährigen, der zum ersten Mal in der Oper "Siegfried" sitzt. Auch hier in Bayreuth wird irgendjemand reinkommen, der vom Stück keine Ahnung hat. Natürlich erwarte ich, dass das Publikum das Stück gut kennt. Trotzdem muss immer eine Tür offen bleiben für jemanden, der ganz neu ist. Und im Theater gibt es immer ein dialogisches Prinzip. Friedrich Nietzsche sagte dazu sinngemäß, dass man zwei Dinge benötige, um ein großes Ereignis zu schaffen: hervorragende Leute, die auf der Bühne die Leistung erbringen – und ebenso hervorragende Leute im Auditorium, die die Aufführung annehmen.Was soll das Publikum bei Ihrer Inszenierung mitnehmen?

Festspielhaus Bayreuth
Das Richard-Wagner-Festspielhaus in Bayreuth wurde 1876 eröffnet Bild: picture alliance/dpa/D. Karmann

Ich wünsche mir nur, dass sie die Bilder und die Musik mit offenem Herzen auf sich zukommen lassen. Und ich wünsche allen, dass sie die Bilder, Ideen und Gedanken selbst deuten können.

Spüren Sie etwas vom Mythos Bayreuth?

Man spürt ihn komplett. Jeden Tag fahre ich auf dem Fahrrad über eine Brücke, sehe die "Walküre"-Porzellanfabrik – und dahinter das Festspielhaus auf dem "Grünen Hügel." Dann denke ich: Genau hier hat ein großer Geist sich etwas ausgedacht, wo Architektur und Musik zusammenspielen. Es ist inspirierend, einfach großartig! Die Schattenseite ist auch immer da, aber diese Reibung macht es noch komplexer, reicher, interessanter.

Mit Yuval Sharon sprach Hans Christoph von Bock.