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Zeitbomben in Zentralasien

Jurij Semmel6. Juni 2002

Unter den Problemen Zentralasiens nehmen die territorialen Streitigkeiten vorläufig nicht den wichtigsten Platz ein. Die gegenwärtige Situation birgt jedoch Gefahren in sich. Ein Hintergrund von DW-Radio Russisch.

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Russischer Grenzposten nahe Tadschikistan: Vieles ist im FlussBild: AP

Im Mai dieses Jahres ist hat sich das Territorium Chinas vergrößert. Grund dafür war, das Kirgisistan und Kasachstan Land abgeben mussten. Der Prozess hat auf Wunsch beider Seiten stattgefunden und ist ein Ergebnis langjähriger Verhandlungen, deren Teilnehmer noch die ehemalige UdSSR war. Im Jahr 1964 hatten die Sowjetunion und China geographische Karten ausgetauscht, auf denen die Vorstellungen der Staaten über die Staatsgrenzen an 25 Abschnitten nicht übereinstimmten.

Vor dem Zerfall der Sowjetunion erkannten Michail Gorbatschow und Deng Xiaoping offiziell an, dass es umstrittene Territorien gibt und bekundeten die Notwendigkeit, gegenseitig annehmbare Lösungen zu erarbeiten, die die territorialen Ansprüche aus dem Weg räumen. Eben damit mussten sich Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan in den letzten Jahren selbständig beschäftigen.

Schweres Erbe der Sowjetära

Kasachstan hat kürzlich in Peking ein Protokoll über die Demarkation der Staatsgrenze zu China unterzeichnet. Die Grundlage dieses Protokolls sind Dokumente über die Grenze zwischen Russland und China, die bereits Mitte des 18. Jahrhunderts unterzeichnet wurden und auch über zwei Jahrhunderte später keine Zugeständnisse und Beanstandungen zulassen. Das letzte Dokument, hieß es offiziell, habe das "letzte i-Tüpfelchen" bei der juristischen Festlegung der Grenze zwischen Kasachstan und China gesetzt.

Ein Fünftel Tadschikistans steht zur Disposition

Tadschikistan kann von solcher Gewissheit bei der Festlegung der Grenze zu China heute nur träumen. Der "große Nachbar" erhebt Anspruch auf 28.000 Quadratkilometer umstrittenen Territoriums, was etwa einem Fünftel des derzeitigen tadschikischen Territoriums entspricht.
Der Präsident Tadschikistans, Emomali Rachmonow, hat bei seinem jüngsten Besuch in China ein Dokument unterzeichnet, demzufolge nur 1000 Quadratkilometer an China abgetreten werden. Dabei handelt es sich um einen Gebirgsstock im östlichen Pamir-Gebirge, der auf einer Höhe von über 5000 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Wie der Pressedienst des Präsidenten später erläuterte, gibt es auf dem an China abgetretenen Territorium "weder Weiden noch Bevölkerung." Auch wenn kein Wort darüber gefallen ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Interessen der ethnischen Kirgisen, die den größten Teil der Bevölkerung des östlichen Pamir-Gebirges darstellen und eine halbnomadische Lebensweise führen, in ausreichendem Maße beachtet wurden.

Territorialfrage sorgt für Unruhen in Kirgisistan

Der Vertrag zwischen Kirgisistan und China über die Übergabe von 90.000 Hektar kirgisischen Territoriums im Süden des Landes, in der Gegend des Flusses Usengi-Kuusch, an Peking ist im letzten Jahr unterzeichnet und sofort von China ratifiziert worden. Die Territorien, um die es geht, sind seit 1964 umstritten, das sowjetisch-chinesische Problem ist mit der Zeit zum kirgisisch-chinesischen geworden. Die Regierung in Bischkek beschloss, an den Nachbarn ein Drittel des Territoriums zu übergeben, auf das China Anspruch erhob. Wie in Tadschikistan sind diese Bergregionen eigentlich nicht von besonderem Wert. Allerdings ist für einen Staat von 200.000 Quadratkilometern Fläche auch der Verlust von 900 Quadratkilometern nicht wenig. Für die kirgisische Opposition war das ein Anlass für massenhafte Ausschreitungen gegen die Regierung und den Präsidenten.
Die Zusammenstöße zwischen der Miliz und Oppositionsanhängern haben im April bereits zum Tod von fünf Personen geführt. Noch gelingt es dem Präsidenten, die explosive Situation unter Kontrolle zu halten. Es ist jedoch offensichtlich, dass die Ereignisse in Kirgisistan, dem, wie einige Beobachter behaupten, "eine Clan-Revolution droht", noch lange nicht zur Ruhe kommen.

Weitere Spannungsherde in Sicht

Neue Gefahren können auf dem postsowjetischen Gebiet Zentralasiens immer wieder auftauchen. Grund dafür werden allerdings territoriale Ansprüche der ehemaligen Republiken der Sowjetunion gegeneinander sein. Erst kürzlich ist es im kasachischen Almaty zu massenhaften Protestkundgebungen wegen des Beschlusses gekommen, Usbekistan womöglich die Territorien um zwei kleine Dörfer - Bagys und Turkestanez - zu übergeben.

Es genügt schon, sich den Verlauf der kirgisisch-usbekischen Grenze anzusehen, der an eine Säge erinnert. Noch verzwickter sieht die Grenze zwischen Tadschikistan und Usbekistan sowie Kirgisistan aus. Das sind die Folgen der recht schnellen Bildung von Sowjetrepubliken in Zentralasien und der territorialen Abgrenzung in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Als Ergebnis kann man heute ohne besondere Mühe in Tadschikistan Leute finden, die in einem vertraulichen Gespräch behaupten werden, dass die ursprünglich tadschikischen Städte Buchara und Samarkand eben infolge dieser sowjetischen Abgrenzung Usbekistan zugesprochen wurden. Ernste territoriale Ansprüche sind für die ehemaligen Sowjetrepubliken heute nicht besonders aktuell. Mit der Zeit könnte sich die Situation jedoch grundlegend verändern.