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Zeitgenosse Grass

19. August 2010

Das neue Buch von Günter Grass ist ein literarisches Chamäleon: Es erzählt die Geschichte des Grimmschen Wörterbuchs, wechselt laufend die Farben und erzählt vom Leben des Autors als politisch engagiertem Bürger.

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Buchcover Günter Grass Grimms Wörter (Copyright: Steidl Verlag)
Bild: Steidl

Es ist das Jahr 1837. Der frisch gekrönte König von Hannover setzt die in seinen Augen viel zu liberale Verfassung des Landes außer Kraft und entlässt sieben Professoren der Universität Göttingen. Unter diesen Professoren sind auch Jacob und Wilhelm Grimm, die Herausgeber einer Märchensammlung und der "Deutschen Grammatik". Ihre Entlassung ist ein purer Willkürakt, aber der Rückfall in längst als überwunden geglaubte Formen absolutistischer Herrschaft hat ungeahnte Folgen. Die beiden Grimms - sie leben nach ihrer Verbannung zuerst in Kassel, später in Berlin – nehmen das Angebot eines Leipziger Verlegerduos an und beginnen mit der Arbeit an ihrem Lebenswerk, dem "Deutschen Wörterbuch".

Günter Grass signiert ein Buch in der SPD-Parteizentrale (2009) (Foto: AP/Gero Breloer)
Politischer Poet: Grass in der SPD-ZentraleBild: AP

Mit der Schilderung dieser Vorgänge setzt das neue Buch von Günter Grass ein. Ihn interessiert aber nicht nur, wie die beiden Grimms über Jahre aus den Werken der Dichter die Bedeutungen jedes einzelnen Wortes herausarbeiten. Er vergegenwärtigt sich auch die politischen Begleitumstände dieser Arbeit, und die Beschäftigung mit dieser Geschichte liefert ihm laufend Stichworte, um über seine eigene politische Arbeit seit den frühen 1960er Jahren und seinem ersten Eintreten für die sozialdemokratische Partei, die SPD, zu schreiben.

Leiden an der Wiedervereinigung

Dabei überwindet Günter Grass den tiefen Graben zwischen dem 19. und dem späten 20. Jahrhundert auf leichte, assoziative Weise. Vom zerrissenen Deutschland, dem die beiden Philologen zum Opfer gefallen sind, kommt er zum Beispiel auf die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung zu sprechen, an der er noch heute leidet. Mit dem Wendejahr 1989 kann er nach wie vor nichts Gutes verbinden. Es ist für ihn das Jahr, ab dem die Bundesrepublik in der DDR ein günstiges Ausbeutungsobjekt sehen durfte.

Günter Grass und der SPD-Vorsitzende Willy Brandt in einer Wahlkampf-Veranstaltung 1976 (Foto: Dieter Klar / dpa - Report)
Günter Grass und SPD-Chef Willy Brandt 1976Bild: picture-alliance/ dpa

Diese politischen Ansichten hat Günter Grass nicht das erste Mal formuliert. Aber darum, neue politische Ansichten in Umlauf zu bringen, geht es Günter Grass in seinem neuen Buch auch nicht. In "Grimms Wörter" schreibt er den dritten Teil seiner Autobiographie. Vorangegangen waren der Band "Beim Häuten der Zwiebel" (2006), in dem er von sich als jungem Mann erzählte, und das Buch "Die Box" (2008), den Geschichten seiner Ehen, Kinder und Lieben. Jetzt gibt er Einblick in sein Leben als politisch denkender Bürger und Autor: Grass schreibt über den Zeitgenossen Günter Grass.

In Sprache vernarrt

Doch dabei geht es nicht allein um sein politisches Engagement. Und so gibt es gute Gründe dafür, dass er beim Erzählen vorsätzlich Abschweifungen sucht und sich ihnen gerne überlässt. Grass – und das zeigt "Grimms Wörter" eindrucksvoll – ist immer ein Dichter gewesen, ein Poet, der sich um Wörter, um Sätze und deren Bedeutung gekümmert hat. Von dort, seiner ureigensten Arbeit als Schriftsteller, ist er zu Wahlkampfreisen für die SPD, zu Demonstrationen gegen die atomare Wiederaufrüstung, zu Friedensgesprächen mit Schriftstellern anderer Länder aufgebrochen – und zur Arbeit mit Wörtern ist er wieder zurückgekehrt.

Dabei zeigt sich Grass vor allem in seinem Nachdenken über Sprache als ein versonnener und literarisch ausgesprochen sensibler Autor, weit entfernt von jenem Schriftsteller, der Schlagzeilen in den Medien produziert. Diesen leiseren, stärker in sich gekehrten und gelegentlich sogar verspielten Autor Günter Grass kennenzulernen und zu sehen, in welchen historisch weitläufigen Zusammenhang er seine Arbeit stellt, macht dieses Buch zu einem lohnenden und anregenden Leseabenteuer.

Günter Grass 2006 mit Pfeife im Garten. (Foto: Matthias Hoenig, Copyright dpa - Bildfunk)
Sensibel, leise, verspielt: Günter GrassBild: picture-alliance/ dpa


Autor: Klaus Siblewski
Redaktion: Aya Bach / gs

Leseprobe:

Ach, alter Adam!
Ab Anbeginn setzten dir Angstläuse zu,
plagte dich Aftersausen, war zu ahnen,
es könnte etwas, das ähnlich der Schlange
sich aalt, länglich aalglatt ist,
ein Angebot machen, das seit Augustinus
Erbsünde heißt und ab dem Apfelbiß
Anspruch erhebt auf Vaterschaft, Alimente.
Danach wurde im Schweiße des Angesichts
nur noch geackert.
Arbeit im Takt nach Akkord,
und deren Mehrwert abgeschöpft,
bis abgesahnt nichts mehr da war.
Ach, alter Adam!


Günter Grass, Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung
Steidl Verlag 2010
368 Seiten, € 29,80