1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Zu viele Kranke: Charité geht in den Notbetrieb

14. Dezember 2022

Corona, Grippe, RS-Virus - Krankenhäuser sind im Ausnahmezustand. Kliniken gehen in den Notbetrieb, Operationen werden abgesagt. Auch, um weiter Personal auf Kinderstationen schicken zu können.

https://p.dw.com/p/4KVBv
Das Hauptgebäude der Charité in Berlin
Das Hauptgebäude der Charité in BerlinBild: Lakomski/Eibner-Pressefoto/picture alliance

Da ist der gerade reanimierte Säugling, der in eine eigentlich voll belegte Kinderklinik aufgenommen wird - dafür muss ein Dreijähriger den dritten Tag in Folge auf seine dringend notwendige Herzoperation warten. Da ist das Kind, das in der Nacht 150 Kilometer von Hannover nach Magdeburg verlegt wird, weil alle Betten voll sind - und 21 Kliniken in der Nähe keinen Platz haben. Und da sind Hunderte Kinder, die eine ganze Nacht in der Aufnahme herumkeuchen und dann trotzdem nach Hause geschickt werden. Oder aber auf Normalstationen behandelt werden, obwohl sie längst auf die Intensivstation gehören.

"Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können", warnt Michael Sasse, Leitender Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, angesichts der katastrophalen Situation in deutschen Kinderkliniken. Das sind drastische Worte. Spricht man mit Mehrak Yoosefi, kommt das Flehen der Realität gefährlich nah. Die Kinderärztin an Europas größter Universitätsklinik, der Berliner Charité, sagt: "Derzeit ist 24/7-Betrieb in allen Kinderrettungsstellen. Die Kapazitäten sind erschöpft, wir können die Versorgung nicht mehr sicherstellen. Wir müssen schauen, dass wir es schaffen, dass kein Kind in dieser Zeit stirbt."

Ärzte und Pflegepersonal werden umgeleitet

Laut Robert-Koch-Institut leidet fast jeder Zehnte in Deutschland aktuell an einer Atemwegserkrankung, beinahe neun Millionen Menschen. Besonders stark grassieren die Viren unter den  Schulkindern zwischen fünf und 14 Jahren.  Und besonders gefährlich für Kinder und vor allem Säuglinge ist das sogenannte Respiratorische Synzytial-Virus, kurz RS-Virus. Es befällt die Atemwege und kann für schwere Verläufe sorgen, die sogar künstliche Beatmung erfordern.

Intensivpflegerin am Klinikum Stuttgart - Kind wird beatmet, weil es mit dem RS-Virus infiziert ist
Dieses Kind wird beatmet, weil es mit dem RS-Virus infiziert istBild: Marijan Murat/dpa/picture alliance

An der Charité, Europas größter Universitätsklinik, werden seit Wochen Ärzte und Pflegepersonal von normalen Stationen auf die Kinderstationen abgezogen. Doch auch unter den Mitarbeitern grassieren Corona, die Grippe und schwere Erkältungen. Der Personalnotstand ist so groß, dass die Charité in den Notbetrieb gehen muss. So, wie bereits viele andere deutsche Krankenhäuser.

In der Praxis heißt das: Bis Jahresende werden täglich hunderte geplante Operationen auf 2023 verschoben. "Wir bedauern dieses Vorgehen, wollen aber ermöglichen, dass dringliche Behandlungen, wie zeitkritische Tumoroperationen, Transplantationen, Versorgung von Patientinnen und Patienten nach Schlaganfall, Herzinfarkt oder andere Notfällen, weiter durchgeführt werden können", sagt ein Sprecher der Berliner Uniklinik. Außerdem wolle man es weiterhin möglich machen, Ärzte und Pflegekräfte als Verstärkung auf den Kinderstationen einsetzen zu können.

RS-Virus vor allem für Kleinkinder gefährlich

Dass das RS-Virus Deutschland gerade mit voller Wucht trifft, hat viel mit der Corona-Pandemie zu tun. Wegen der Maskenpflicht und der Corona-Lockdowns haben sich Kleinkinder seltener mit dem Virus angesteckt - und holen die Infektion nun nach. Mit schwerwiegenden Folgen für das deutsche Gesundheitssystem, das schon länger unter chronischer Überlastung ächzt.

Yoosefi, die auch deshalb eine Maske trägt, um nicht selbst krank zu werden, sagt: "Wir können diese Kinder zum Teil nicht aufnehmen, weil wir keine Betten haben. Die Kinder können zum Teil keine Atemunterstützung bekommen, weil wir keine freien Geräte haben, um ihre Sauerstoffsättigung zu überwachen. Das sind Kinder, die Atemaussetzer haben können. Kinder werden derzeit frühzeitiger entlassen und auch früher von den Intensivstationen auf normale Stationen verlegt."

Kaum noch Klinikbetten frei

Jede zweite Klinik bundesweit musste Kinder für die Kinderintensivmedizin ablehnen. Dies ergab eine Umfrage der DIVI, der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Und von 110 Kinderkliniken hatten jüngst 43 Einrichtungen kein einziges Bett auf der Normalstation mehr frei. Hinzu kommt: Es gibt zwar genügend Kinderintensivbetten, aber fast 40 Prozent können wegen Personalmangels nicht betrieben werden. "Wir sind alle total überarbeitet", sagt die Kinderärztin der Charité, "es fehlt an allen Ecken und Enden an Personal, um den riesigen Ansturm zu bewältigen."

Mehrak Yoosefi - Kinderärztin an der Charité in Berlin
"Es ist auch ein Problem, dass die Aggressivität der Eltern angesichts der Situation ansteigt" - Mehrak YoosefiBild: Privat

Es ist nicht so, dass die deutschen Kinderkliniken nicht vorhergesehen haben, was auf sie in diesem Winter zukommt. Schon im Januar wandte sich Mehrak Yoosefi mit der Initiative Berliner Kinderkliniken, einer Gruppe von Kinderärzten und Kinderärztinnen der Hauptstadt, an die Politik. Keine Reaktion. Der zweite Brandbrief an die Berliner Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) und SPD-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach folgte im September. "Wir haben diese Welle vorausgesagt. Und jetzt ist die Bestürzung natürlich sehr groß, weil es noch viel schlimmer gekommen ist als angenommen."

300 Millionen Euro für Kinderkliniken in den nächsten zwei Jahren

Spät, für diesen Winter wohl zu spät, hat die Politik reagiert. Der Bundestag beschloss ein Gesetzespaket zu Krankenhäusern, das Kinderkliniken mehr Geld in die klammen Kassen spülen soll. Jeweils 300 Millionen Euro zusätzlich soll es 2023 und 2024 geben. Plus jeweils 120 Millionen Euro zur Sicherung von Geburtshilfestandorten. Aber Yoosefi bringt mächtig auf die Palme, was Gesundheitsminister Karl Lauterbach vorschlägt, um die aktuelle Krise zu meistern: Personal von anderen Stationen für die Kinderkliniken abzuziehen.

"Auf dem Papier geht es mit Sicherheit, dass man einfach Stellen von hier nach da verschiebt. Aber wo sollen diese Leute herkommen? Es ist nicht so, dass die anderen Stationen Personal im Übermaß hätten, was sie einfach nach links oder rechts verteilen könnten. Außerdem ist die Kinderheilkunde ein eigenständiges Fach. Ärztliches Personal, das eher mit Erwachsenen zu tun hat, fühlt sich zum Teil nicht sicher genug, um in der Kinderklinik zu arbeiten."

Nachteile der generalistischen Pflegeausbildung

Moderner und attraktiver sollte die Ausbildung zur Pflegefachkraft mit dem 1. Januar 2020 werden, verkündete damals stolz das Bundesfamilienministerium. Doch die Kinderkliniken merken knappe drei Jahre später schmerzlich, dass die sogenannte generalistische Pflegeausbildung, mit der Beschäftigte für alle Altersgruppen und Versorgungsbereiche arbeiten dürfen, nicht nur Vorteile hat. Professor Jörg Dötsch, Direktor der Kinderklinik der Uniklinik Köln und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, sieht eine bedrohliche pflegerischen Lücke:

"Man hat vor einigen Jahren entschieden, die Pflegeausbildung europäischen Gepflogenheiten anzupassen. Und gehofft, dass sich ein Teil dieser Menschen vielleicht für die Kinderkrankenpflege spezialisiert. Das Problem ist, dass der Anteil derer, die sich da spezialisieren, zu gering ist. Vielleicht noch kritischer ist, dass diese Spezialisierungsmöglichkeiten in manchen Bundesländern gar nicht angeboten werden."

Prof. Dr. Jörg Dötsch - Kinder- und Jugendmediziner
"Es ist schon jetzt fast jedes dritte Kind in der Erwachsenenpflege, Jugendliche von 15 bis 17 Jahren" - Jörg DötschBild: Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin/Uniklinik Köln

Hinzu kommt: Wie bei der Erwachsenenpflege haben auch viele Pflegerinnen und Pfleger in den Kinderkliniken ihren Job während und nach der Corona-Pandemie geschmissen. Wer früher 30 oder 40 Jahre in der Pflege war, verlässt den Beruf heute schon nach acht oder neun Jahren, beobachtet Dötsch. Die Menschen also, die oftmals jetzt fehlten, um eine optimale Betreuung der Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten. "Uns fehlt es an qualifiziertem Personal, und deswegen können wir nicht alle Betten betreiben."

Fallpauschale vor allem für Kinderkliniken fatal

Und dann ist da noch die Fallpauschale, welche besonders den Kinderkliniken Kopfschmerzen bereitet. Krankenhausleistungen werden seit 2004 nach der gestellten Diagnose, nicht nach dem tatsächlichen Personal- und Zeitaufwand vergütet. Während ein Piks bei einem Erwachsenen nur Minuten dauert, braucht es für die Blutabnahme bei kleinen Kindern und erklärende Worte an die Eltern schon mal eine halbe Stunde. "Man braucht viel Energie und Zeit, weil Kinder und Jugendliche und auch ihre Eltern einen ganz anderen Betreuungsaufwand haben", sagt Kinderklinikdirektor Dötsch.

Immerhin: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat angekündigt, dass nicht mehr ökonomischer Zwang, sondern medizinische Notwendigkeit künftig in den Kliniken über die Behandlung entscheiden solle, mit dem Fallpauschalensystem "billig und Menge" wie im Lebensmitteldiscounter solle bald Schluss sein. Mehrak Yoosefi, die Berliner Kinderärztin, kann es kaum erwarten: "Die Pädiatrie muss aus der Fallpauschale raus, es muss eine andere Art der Finanzierung geben."

Dieser Artikel wurde am 5. Dezember veröffentlicht und am 16. Dezember zuletzt aktualisiert.

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur