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Zurück in die Atomstadt

Martin Fritz (aus Naraha,/Japan)9. März 2016

Als erster Ort in der früheren Sperrzone um das Atomkraftwerk Fukushima darf die Stadt Naraha wieder besiedelt werden. Der Neuanfang verläuft allerdings quälend langsam. Aus Japan berichtet Martin Fritz.

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Wiederöffnungszeremonie in Naraha mit Bürgermeister und Bürgern(Foto: picture-alliance/Kyodo)
Bild: picture-alliance/Kyodo

Jeden Morgen versammelt sich eine Gruppe von städtischen Angestellten im Rathaus von Naraha für eine Besprechung. Dann ziehen sie zu zweit los und suchen in den Wohnvierteln nach neuen Rückkehrern. Sie wollen sie registrieren und fragen, was sie brauchen. Begleitet von einem Kamerateam des TV-Senders NHK treffen Kumiko Watanabe und ihre Helferin diesmal einen alten Mann in seinem Garten. "Wie geht es Ihnen?" fragt Watanabe mit warmer Stimme. Der antwortet erst munter mit "Alles prima". Aber als der 87jährige erzählt, dass er ohne seinen Sohn zurückgekehrt ist, bricht er in Tränen aus. Watanabe versucht den weinenden Alten zu trösten. "Bald kommen ja alle wieder!", verspricht sie.

Doch das ist bisher nur eine Hoffnung. Fast alle Beben- und Tsunami-Schäden in der Kleinstadt sind repariert, Bahnstrecke und Straßen instandgesetzt, Böden und Häuser dekontaminiert. Vor sechs Monaten beschloss die Regierung, dass Naraha als erste von sieben Städten, die im März 2011 wegen des Atomunfalls komplett evakuiert wurden, wieder besiedelt werden darf. Das Leben dort wurde offiziell und entgegen allen Zweifeln für sicher erklärt. Am 5. September wurde der Evakuierungsbefehl aufgehoben (Artikelbild). Ein halbes Jahr später sind erst 440 der 7.400 Ex-Bewohner zurück, also nur sechs Prozent, davon zwei Drittel im Seniorenalter über 60. Die Stadt begrüßt jeden Rückkehrer mehr oder weniger einzeln.

Plastiksäcke mit verstrahlter Oberbodenerde am Strand (Foto: Reuters/Toru Hanai)
Plastiksäcke mit verstrahlter Oberbodenerde, hier abgestellt am Strand, findet man überall in der GegendBild: Reuters/Toru Hanai

Sehnsucht nach dem alten Leben

Bei Reiko Oshikane war die Sehnsucht nach dem alten Leben so groß, dass sie für die Rückkehr einen guten Job gekündigt hat. Der Tsunami hatte ihr anderthalb Kilometer vom Meer entferntes Haus überschwemmt, aber das Ehepaar hat es inzwischen instandgesetzt. Ihre Angst vor der Strahlung unterdrückt die 58-Jährige. "In die Berge hinter Naraha sollte ich wegen der hohen Radioaktivität eigentlich nicht gehen", erzählt sie. "Dann sage ich mir, es wird schon okay sein, ich habe sowieso nur noch dreißig Jahre zu leben." Ihr Kalkül klingt zynisch und ist doch rational. Im Rathaus, im Badehotel, an der Straße - in Naraha stehen überall Strahlenmesser. Ihre roten Digitalziffern zeigen Werte von 0,1 bis 0,2 Mikro-Sievert pro Stunde. Das ist deutlich höher als vor dem Unfall, aber aufs Jahr hochgerechnet nur doppelt so viel wie die international empfohlene Dosis.

Doch der einzige zurückgekehrte Arzt von Naraha, Kaoru Aoki, hält die Sorgen der früheren Bewohner für berechtigt. "Uns Japanern wurde immer gesagt, dass Atomkraft sicher ist, aber dann gab es diese schreckliche Katastrophe", sagt er. Die Mehrheit könne daher der Regierung und den Behörden nicht mehr glauben. Der Staat sollte die Bürger mehr schützen, verlangt der Arzt. Das gefährliche Strontium 90 sollte man aus dem Trinkwasser filtern und die nicht dekontaminierten Gebiete absperren und dort Warnschilder aufstellen. Man könnte die Gesundheitsgefahr leicht vergessen, da radioaktive Strahlung nicht zu sehen, riechen und schmecken ist. Aber jeder Bewohner trägt immer ein Dosimeter bei sich. Und da gibt es noch Tausende schwarzer Säcke mit den Abfällen der Dekontaminierung auf zahlreichen Flächen rings um Naraha. "Wer will, dass die Bewohner zurückkommen, der muss sämtliche Abfälle abtransportieren", meint Aoki.

Strahlungsmessgerät auf dem Geländer einer Grundschule in Nahara (FCoto: picture-alliance/AP Photo/Koji Sasahara)
Strahlungsmessgerät auf dem Gelände einer Grundschule in NaharaBild: picture-alliance/AP Photo/Koji Sasahara

Unzureichende Infrastruktur

Selbst das dürfte nicht ausreichen, um Jüngere und Familien zurückzulocken. Es mangelt auch an Arbeitsstellen, Freizeitmöglichkeiten, Kindergärten und Schulen. Bürgermeister Yukiei Matsumoto macht sich keine Illusionen: "Der Wiederaufbau von Naraha startet nicht bei Null, sondern im Minus-Bereich." Zum Beispiel in der Landwirtschaft. Fukushima war früher bekannt für Reis und Pfirsiche, aber heute ist die regionale Herkunftsbezeichnung ein Stigma. Stolz zeigt der Bürgermeister auf Wandfotos von ihm und Premier Shinzo Abe in der Hauptstadt Tokio. "Unser Regierungschef hat vor der Presse Reis und Lachs aus Naraha gegessen, um den Ruf unserer Produkte zu verbessern", erzählt er.

Matsumoto hat das Altersheim renovieren lassen. Mit einem Dutzend Rückkehrern als Bewohner wurde es eröffnet. Im Februar folgte ein Krankenhaus. Ein Hotel mit Badeteichen wurde ausgebaut. Die Grundschule wird im Frühjahr 2017 fertig. Für die geplante Einkaufsstraße mit Super- und Baumarkt fehlt aber noch ein Betreiber. "Wir haben ein Henne-Ei-Problem", sagt Kaoru Saito, Generalsekretär der lokalen Handelskammer. "Ohne Geschäfte keine Rückkehrer, ohne Rückkehrer keine Geschäfte!" Er fordert zinslose, garantierte Kredite gegen das Insolvenzrisiko. Die Zahl der Beschäftigten im Industriepark von Naraha ist von früher 800 auf zehn gesunken. Davon wohnen nur drei in Naraha. Saito versucht es mit einem Appell: "Die Familien sollten nicht über Strahlung, Geld und Infrastruktur nachdenken, sondern wie sie als Familie weiterleben wollen." Er rechnet damit, dass in den nächsten fünf Jahren mehr als ein Drittel der Menschen zurückkehrt. Bürgermeister Matsumoto reagiert aufmerksam auf die Wünsche der Rückkehrwilligen. Nach Beschwerden über die tiefe Dunkelheit installierte die Stadt eintausend besonders helle LED-Lampen und 24 Überwachungskameras. "Die evakuierten Bewohner sollen merken, was für ein guter Platz Naraha zum Leben ist", sagt Matsumoto.

Verstrahltes Grund- und Kühlwasser in Tanks auf dem Reaktorgelände (Foto: Getty Images/C. Furlong)
Verstrahltes Grund- und Kühlwasser wird in diesen Tanks auf dem Reaktorgelände gelagert - was letztlich damit geschehen soll, ist ebenso unklar wie die Behandlung der Säcke mit ErdeBild: Getty Images/C. Furlong

Atomkraft als Lebensader

Ein Dilemma kann der Politiker nicht auflösen: Die Stadt lebte einst von der Atomindustrie - und hängt jetzt wieder am Atomtropf. Symbol dafür ist das 80 Millionen Euro teure neues Forschungszentrum der Atomenergie-Vereinigung JAEA. Dort werden neue Technologien für die Stilllegung der Fukushima-Reaktoren erprobt. Vor dem Unfall wurde der städtische Haushalt von Naraha zu 60 Prozent durch Zahlungen des Stromversorgers Tepco und durch staatliche Zuwendungen für die Akzeptanz der Atomanlagen finanziert. Der Großteil der Einwohner arbeitete direkt oder indirekt für die zwei Tepco-Kraftwerke mit insgesamt zehn Reaktoren. Beim Unfall wurde Naraha die AKW-Nähe dann zum Verhängnis. Aber jetzt kommt mehr als die Hälfte der Einnahmen weiter von Tepco. Neue Jobs entstehen vor allem durch die Stilllegung der Reaktoren. Das AKW ist eine riesige Baustelle mit 7.000 Arbeitern täglich.

Auch Kentaro Aoki sieht hier Chancen. Der 26jährige arbeitet seit einem Jahr für eine Kooperative, die am neuen Hafen von Naraha Flusslachse züchtet. Zuvor hatte Aoki drei Jahre lang bei den Aufräumarbeiten im zerstörten AKW geholfen. "Wenn Tepco mich heute wieder anriefe, dann würde ich wohl nicht Nein sagen", meint er unbekümmert. Die Arbeit sei ein "bisschen gefährlich" und seine Eltern dagegen, aber besser bezahlt, als was er jetzt mache. Wie fast alle Rückkehrer von Naraha zögert er mit Kritik an der Atomkraft. Die reparierten Reaktoren an der Küste könnte man noch nutzen.

Auch Bürgermeister Matsumoto will Betreiber Tepco nicht an den Pranger stellen: "Es hat an Sensibilität für Sicherheit gefehlt", antwortet er auf eine Nachfrage. Aber das sei für ihn eine Sache der Vergangenheit: "Nach fünf Jahren möchte ich mich auf die Zukunft konzentrieren und Fortschritte machen." Im Neuaufbau von Naraha zeigt sich die japanische Neigung, peinliche Sachen durch Wegschauen zu ignorieren. Das entlastet die Seele und erleichtert den Alltag. So vermeidet man aber auch, aus Fehlern zu lernen und neue Wege zu finden.