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Politik

Bewährungsstrafe für frühere KZ-Sekretärin

20. Dezember 2022

Das Landgericht in Itzehoe hat die 97 Jahre alte Irmgard F. der Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen schuldig gesprochen. Sie hatte 1943 bis 1945 als Stenotypistin für den Kommandanten im KZ Stutthof gearbeitet.

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Die angeklagte Irmgard F. vor Gericht
Die angeklagte Irmgard F. vor Gericht Bild: Christian Charisius/dpa/picture alliance

Schuldspruch für ehemalige KZ-Sekretärin

Die Anklage hatte Irmgard F. beschuldigt, von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der NS-Kommandantur von Stutthof bei Danzig im damaligen Ostpreußen gearbeitet zu haben. Sie erledigte Schreibarbeiten für den Kommandanten des Konzentrationslagers. Da sie zur Tatzeit erst 18 beziehungsweise 19 Jahre alt war, lief der Prozess vor einer Jugendkammer des Landgerichts in Itzehoe in Schleswig-Hollstein. 

Nach Überzeugung des Gerichts leistete Irmgard F. mit ihrer Arbeit den Verantwortlichen des Nazi-Konzentrationslagers Hilfe bei der systematischen Tötung von Inhaftierten. Mit dem Urteil - zwei Jahre Haft auf Bewährung - entsprach das Gericht nach 40 Verhandlungstagen der Forderung der Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert.

Blick auf ehemalige Baracken der Gefangenen in Stutthof
Blick auf ehemalige Baracken der Gefangenen in Stutthof Bild: Michal Fludra/NurPhoto/picture alliance

Im Lager Stutthof hatte die SS während des Zweiten Weltkriegs mehr als hunderttausend Menschen unter erbärmlichsten Bedingungen gefangen gehalten, darunter viele Juden. Etwa 65.000 Menschen starben nach Erkenntnissen von Historikern. Das Lager war berüchtigt für die absichtlich völlig unzureichende Versorgung der Gefangenen. Die meisten Menschen starben an Seuchen, Entkräftung und Misshandlung. Es gab auch eine Gaskammer und eine Genickschussanlage.

Zeugen per Video gehört

"Die im 98. Lebensjahr stehende Angeklagte hat ihre gerichtliche Schuldig-Sprechung wegen Beihilfe zum mehrtausendfachen Mord erhalten. Mehr kann staatliches Strafrecht inhaltlich nicht leisten", sagte Rechtsanwalt Hans-Jürgen Förster, der vier Stutthof-Überlebende als Nebenkläger vertrat. 

Seit Beginn des Prozesses am 30. September 2021 hatte das Gericht acht der zeitweise 31 Nebenkläger angehört, meist über eine Videoverbindung in die USA, Israel oder Polen. Sie berichteten vom Leiden und massenhaften Sterben in Stutthof. Wichtigster Zeuge war jedoch der historische Sachverständige Stefan Hördler, der sein Gutachten in 14 Sitzungen vorstellte. Die Verteidigung stellte einen  Befangenheitsantrag gegen ihn, den das Gericht aber ablehnte.

Irmgard F. während der NS-Diktatur
Irmgard F. während der NS-Diktatur (Bundesarchivbild) Bild: Bundesarchiv

Die Angeklagte wollte sich anfangs dem Verfahren nicht stellen. Am ersten Verhandlungstag verschwand sie frühmorgens aus ihrem Seniorenheim in Quickborn im Kreis Pinneberg. Die Polizei griff sie Stunden später auf einer Straße in Hamburg auf. Das Gericht erließ einen Haftbefehl. Die damals 96-Jährige verbrachte fünf Tage in Untersuchungshaft und musste danach wochenlang ein elektronisches Armband tragen.

Drei Sätze am letzten Verhandlungstag

Vor Gericht wirkte Irmgard F. rüstig. Fast bis ganz zum Schluss äußerte sie sich nicht zu den Vorwürfen, obwohl die Nebenklagevertreter sie dazu immer wieder aufforderten. Erst am letzten Verhandlungstag brach sie ihr Schweigen. "Es tut mir leid, was alles geschehen ist", sagte sie. Die 97-Jährige fügte hinzu: "Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen."

Letztes Verfahren wegen NS-Verbrechen?

Es war möglicherweise der letzte Prozess in Deutschland wegen NS-Verbrechen. Ende Juni 2022 hatte das Landgericht Neuruppin einen ehemaligen Wachmann des KZ Sachsenhausen wegen Beihilfe zum Mord an Tausenden Häftlingen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Fünf weitere Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche NS-Täter sind nach Angaben der Zentralstelle in Ludwigsburg in Baden-Württemberg bei den Staatsanwaltschaften anhängig, davon jeweils eins bei den Behörden in Erfurt, Coburg und Hamburg sowie zwei in Neuruppin.

Die Justiz muss in diesen Fällen ermitteln, weil es um Beihilfe zum Mord geht. 1979 hatte der Bundestag die Verjährung von Mord und Beihilfe zum Mord endgültig aufgehoben. Das bedeutet, dass sich Tatverdächtige bei Verhandlungsfähigkeit bis ins hohe Alter einem Verfahren stellen müssen.

se/kle (dpa, afp)