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Politik

"Die Muster menschlichen Verhaltens wiederholen sich"

Robert Mudge
8. Mai 2020

Ist der deutsche Blick auf den Zweiten Weltkrieg und den Tag der Befreiung am 8. Mai verzerrt? Das behauptet der britische Historiker James Holland und fordert eine Neujustierung in der Gesellschaft.

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Holzkreuze und ein Kranz aus Mohnblumen als Gedenken der Royal Air Force in Brandenburg
Bild: picture-alliance/dpa/P. Pleul

DW: Wie würden Sie die Rolle der britischen Streitkräfte zum Ende des Krieges beschreiben?

James Holland: Großbritannien war mit am längsten in den Krieg involviert - der Krieg war schließlich nicht vorbei am 8. Mai. Für das Vereinigte Königreich ging es weiter bis Mitte August durch die Situation im Fernen Osten.

Ein Problem liegt sicherlich in der Betrachtungsweise des Krieges. Meiner Meinung nach wird die Lage zu sehr aus der militärischen Binnenperspektive gesehen und andere Faktoren werden ignoriert. Die Wirtschaft zum Beispiel oder wie Großbritannien versucht hat, Industrie, Technologie und Wissenschaft zu stärken.

In diesem Zusammenhang muss man sich die Lage an der Ostfront anschauen. Bis zu 48 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung wurden 1944 in die Luftwaffe gesteckt, nicht in die Offensive an der Ostfront. Und die Luftwaffe war überwiegend mit den westlichen Alliierten beschäftigt. Daher bin ich der Meinung, dass man den Blick auf den Krieg neu justieren muss.

Zu dieser Zeit ist Großbritannien noch mit dem Kriegsgeschehen im Fernen Osten beschäftigt. Wenn man sich die Siegesreden von Winston Churchill, vom König und von US-Präsident Harry Truman anschaut, stellt man fest, dass sie sehr zurückhaltend sind. Diesen Herren ist klar: Die Mutter aller Schlachten mit Japan könnte noch bevorstehen. Am 8. Mai steht noch nicht fest, ob die Atombombe rechtzeitig fertig wird und eingesetzt werden kann. 

Harry Truman, Winston Churchill, Anthony Eden &  Dean Acheson an Bord der USS Williamsburg 1952
Die westlichen Alliierten um Präsident Harry Truman (am Kopf des Tisches) und Winston Churchill (links daneben) fürchten im Mai 1945 noch den großen Waffengang mit JapanBild: picture-alliance/Photo12/Ann Ronan Picture Librar

Könnte man vor diesem Hintergrund sagen, dass die Erinnerungskultur in Großbritannien eine andere ist als die in Deutschland?

Interessanterweise nein. Der Fokus lag schon immer auf dem "Victory in Europe Day" (Tag der Befreiung), nicht auf den "Victory in Japan Day" (Sieg über Japan). Ich behaupte, das ist deplatziert. Die Gedenkfeiern sollten eher das eigentliche Kriegsende im August würdigen.

Wir neigen dazu dies zu vergessen, nicht zuletzt wegen der Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima - dadurch wurden die Pläne zur Invasion obsolet. Aber man sollte vor Augen haben, dass alle darauf eingestellt waren. Die britischen Lancaster-Bomber waren abflugbereit, amerikanische und britische Truppen warteten auf ihren Einsatzbefehl. Die Befehlshaber hatten sich schon auf massive Verluste eingestellt, von bis zu 500,000 Toten war die Rede.

Der Tag der Befreiung in Europa hat größere Resonanz, weil der Krieg im Fernen Osten genau das war: fern und nicht bedrohlich für unsere Souveränität. Ganz anders als die Bedrohung durch die Nazis.

Die Debatte um den 8. Mai hier in Deutschland ist geprägt von der Frage, ob es der Tag der Befreiung oder der Tag der Niederlage war. Wie wird das in Großbritannien gesehen?

Für die Briten waren die Nazis immer die Bösen und die galt es zu besiegen. Großbritannien und die Alliierten haben Hitlers Regime immer wieder deutlich gemacht: Wenn ihr eure Kriegshandlungen einstellt, beenden wir die Bombardierungen. Gleichzeitig war jedoch klar: Sollten die Alliierten aufhören zu kämpfen, hätte das Nazi-Regime den Holocaust bis zum bitteren Ende fortgeführt.

Wie beobachten Sie die Debatte um die Kollektivschuld Deutschlands, die immer noch die Gesellschaft beschäftigt?

Das ist unglaublich schwierig und erfordert eine differenzierte Betrachtungsweise. Stellen Sie sich einfach mal vor: Was passiert, wenn jemand feststellt, dass sein Großvater in der Partei war, oder sogar in der SS oder einfach nur gekämpft hat? Wie fühlt sich das an?

In Großbritannien wird jeder Kriegsveteran gefeiert und auf ein Podest gestellt. Sogar die Köche oder die Jungs in den Hinterzimmern, die nie einen Schuss abgefeuert haben.

Der britische Historiker James Holland
Historiker James HollandBild: Privat

Als Deutscher ist das fast unmöglich. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem deutschen Veteranen, der immer wieder in Tränen ausbrach, als er von seinen traumatischen Kriegserlebnissen erzählte. Ich habe wiederholt gesagt: "Sie müssen mir das nicht erzählen". Und er sagte: "Nein, ich muss das tun." Nachdem er sich wieder etwas gefangen hatte, sagte er: "Sie sind der Erste, dem ich das alles erzähle." Der Mann hat das 70 Jahre lang mit sich herumgeschleppt.

Er war ein gewöhnlicher Mensch, der mit einer außergewöhnlichen Situation zurechtkommen musste und keine andere Wahl hatte. Er war nicht verantwortlich für die Vernichtungslager. Er wurde gezwungen, so zu handeln. Muss er sich dafür schuldig fühlen?

Seine Beweggründe waren nicht viel anders als die eines britischen Tommy, der zur gleichen Zeit, 1943, rekrutiert wurde.

Ich habe einen Freund in Freiburg, der mir mal gesagt hat: "Ich hasse es Deutscher zu sein. Wir sind richtig sch***e. Wir sind schreckliche Menschen und ich schäme mich dafür."

Ich war völlig fassungslos. Für mich ist das die eigentliche Tragödie des Krieges und des Nazi-Regimes. Diese 12 Jahre, die immer noch nachhallen. Natürlich sollten die Deutschen sich erinnern und gedenken. Natürlich sollten sie in der Lage sein, derer zu gedenken, die sich geopfert haben, die geopfert wurden. Das heißt nicht, dass diejenigen geehrt werden sollen, die an den Kriegsverbrechen beteiligt waren. Man sollte Anerkennung zeigen dürfen für die Menschen, die für ihr Land gekämpft haben, weil sie keine andere Wahl hatten und ein unglaubliches Opfer gebracht haben.

Angesichts dieser Selbstbesinnung, wie wird Deutschland, von der jetzigen Gesellschaft in Großbritannien gesehen?

Ich glaube, die Briten sehen das sehr entspannt. Natürlich wird immer mal wieder mit Argwohn auf Deutschland geschaut. Der Vorwurf, das Land dominiere Europa, wird gerne bemüht. Das sind die nationalen Stereotypen von Leuten, die Vermutungen anstellen, ohne wirklich zu wissen, wovon sie reden. Jeder, der nach Deutschland reist, so wie ich, stellt fest, dass die Menschen unglaublich interessiert, weltgewandt, freundlich und offen sind.

Wie besorgt ist man über den neuen Populismus in Deutschland, den zum Beispiel die AfD vertritt? Gibt es die Befürchtung die Geschichte könnte sich wiederholen?

Genau deshalb ist es wichtig, die Geschichte zu studieren und den Aufstieg der Nazis zu durchleuchten. Ideologisch gesehen könnte man sagen: 1919 und der Friedensvertrag von Versailles haben den Aufstieg der Nationalsozialisten ermöglicht.

Der wahre Grund für deren Machtübernahme liegt jedoch im Börsencrash an der Wall Street 1929. Schauen sie sich die Geschichte an: Politische Verwerfungen folgen immer auf Finanzkrisen. Es ist nicht so, dass sich die Geschichte wiederholt. Es sind die Muster menschlichen Verhaltens, die sich wiederholen.

Was wir derzeit erleben - den erstarkten Nationalismus, Trumps America First, den Aufstieg der Rechtspopulisten in Deutschland - sind die Folgen der Finanzkrise von 2008, verstärkt durch die Migrationskrise und andere Faktoren.

Umso wichtiger wird daher der Blick auf die COVID-19 Epidemie und ihre Auswirkungen. Es ist jetzt schon absehbar, dass die wirtschaftlichen Folgen noch gravierender sein werden als nach 2008. Damit ist der Nährboden für weiteren Nationalismus und Populismus gelegt. Das kann gefährlich werden.

Das ist die Lehre aus der Vergangenheit, der Geschichte und der Nazi-Zeit. Es ist extrem wichtig, das zu begreifen.

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