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Politik

Der Sudan am Scheideweg

Kersten Knipp | Jennifer Holleis
8. Juni 2022

Sudans Militär gibt sich neuerdings wieder dialogbereit - doch ein großer Teil der Protestbewegung lehnt Gespräche ab. Dem Land könnte eine weitere Verschärfung der politischen und wirtschaftlichen Krise bevorstehen.

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"Wir alle stehen mit euch": Protestkundgebung in Khartum, Anfang Juni 2022Bild: AFP

Der seit Monaten geltende Ausnahmezustand im Sudan ist aufgehoben, doch gegen die Protestbewegung des Landes geht der Militärapparat weiterhin mit Gewalt vor. Nur wenige Tage, nachdem der selbsternannte Staatschef General Abdel Fattah al-Burhan vergangene Woche sein Dekret verkündet hatte, erschossen staatliche Sicherheitskräfte in der sudanesischen Stadt Omdurman erneut einen Demonstranten - es ist der hundertste getötete Demonstrant seit dem Putsch der Armee im Oktober vergangenen Jahres.

Im Oktober 2021 hatte die Armee die Übergangsregierung abgesetzt und an deren Stelle einen von ihren Vertretern dominierten "Souveränen Rat" berufen. Über ihn hielten die Militärs ungeachtet massiver, nicht abreißender Proteste in allen Landesteilen fortan die politische Macht in den Händen. Diese versuchten sie nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International durch willkürliche Verhaftungen und Menschenrechtsverletzungen im Land zu festigen. Dennoch rissen die Kundgebungen und Straßenproteste nicht ab.

Hinwendung zu "Dialog" und "Stabilität"?

Nun gab der seit dem Putsch als Staatschef fungierende General Abdel Fattah al-Burhan freilich nicht nur die Aufhebung des Ausnahmezustands bekannt. Er kündigte auch die Freilassung politischer Gefangener an. Tatsächlich wurden laut "Sudan Tribune" schon wenige Stunden später 125 Gefangene entlassen. Zahllose andere befinden sich aber weiterhin in Haft. In seinem Dekret sprach Burhan zudem von Hoffnung auf "Dialog" und "Stabilität".

Doch auch das könnte dauern: Die politischen Gespräche zur Lösung der Krise, die jetzt unter Vermittlung der UN und der Afrikanischen Union (AU) begonnen haben, werden - zumindest bisher - von einem großen Teil der demokratischen Protestbewegung boykottiert. Beim Auftakt blieb ein Drittel der Stühle unbesetzt, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Und der AU-Gesandte Mohamed Hassan Lebatt betonte: "Wir können uns keine politische Lösung vorstellen, ohne die Teilnahme derer, die nicht anwesend sind." 

Massive Wirtschaftsprobleme

Der Versuch, den politischen Prozess wiederzubeleben, fällt in eine Zeit rasanten wirtschaftlichen Niedergangs. Nach Ausrufung des Ausnahmezustands hatte die internationale Gemeinschaft dem Sudan bereits zugesagte Hilfsgelder eingefroren. Die Staatsschulden schossen in die Höhe, die Bevölkerung leidet unter massivem wirtschaftlichen Druck. So liegt die Inflationsrate des laufenden Jahres laut der offiziellen deutschen Wirtschaftsinformationsgesellschaft "Germany Trade and Invest" (gtai) bei 245 Prozent, die offizielle Arbeitslosenquote bei über 30 Prozent.

Sudan | Händler in Khartoum
Wirtschaften unter schwierigen Bedingungen: Händler in KhartoumBild: ASHRAF SHAZLY/AFP

Verschärft wird die Krise zudem durch die Corona-Pandemie sowie die Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) warnt vor sich verschärfenden Nahrungsmittelkrisen in 20 "Hunger Hotspots", darunter auch der Sudan.

Das Kalkül der Militärs

Doch warum ist das Regime plötzlich wieder an einem Dialog interessiert? Die Regierung habe ihre bisherige unnachgiebige Position vor allem aus zwei Gründen aufgegeben, sagt der Politanalyst Ashraf Abdel Aziz aus Khartum: Zum einen sei der politische Widerstand gegen die Militärs im Sudan immer stärker geworden. Zum anderen steige der wirtschaftliche Druck.

Sudan Khartoum Protest Unruhen 2019
Demonstranten in Khartum, Anfang Juni 2022Bild: AFP

"Das Militär hat die Wirtschaftskrise bislang nicht lösen können", so Abdel Aziz. In der Hoffnung, seine Macht zumindest teilweise erhalten zu können, setze es nun auf eine politische Lösung.

Misstrauen gegenüber "Putschisten"

Dass ein gewichtiger Teil der Protestbewegung hier nicht "mitspielen" will, begründet der in London lebende Aktivist Mohammed Elnaiem mit einem tiefen Misstrauen gegenüber den Militärs als Verhandlungspartner - aber auch gegenüber den Motiven der internationalen Gemeinschaft. "Die meisten Menschen, allen voran die Aktivisten, misstrauen den Vermittlungsbemühungen", sagt er im DW-Gespräch. "Sie haben den Eindruck, die internationale Gemeinschaft besteht auf einer Art Verhandlungslösung mit den Putschisten."

Ähnlich sieht es Mohamed Youssef al-Mostafa, auch er ein Mitglied der sudanesischen Protestbewegung. Mit den jüngsten Schritten versuchten Burhan und die Militärs, die Protestbewegung in Dialog-Befürworter und Dialog-Gegner zu spalten, argwöhnt er im DW-Interview. "Die Militärs sind vor allem daran interessiert, ihre Immunität aufrechtzuerhalten, so dass sie für die von ihnen begangenen Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen werden", meint al-Mostafa. Auch die Spaltungsversuche seien nicht hinnehmbar, erklärt er: "Umso mehr müssen wir darauf achten, dass wir jetzt nicht in mehrere Fraktionen zerfallen."

Sudan politische Krise | Abdel Fattah al-Burhan
Dialog als Taktik zum Machterhalt? Militärmachthaber Abdel Fattah al-BurhanBild: Mahmoud Hjaj/AA/picture alliance

Tatsächlich sei die sudanesische Gesellschaft bereits gespalten, meint Analyst Abdel Aziz: Die eine Gruppe stehe für kompromisslosen Widerstand. "Sie besteht darauf, dass das Militär vollständig von der politischen Bühne abtritt." Die andere Gruppe hingegen setze auf eine politische Lösung. Allerdings setze sich diese Gruppe zumindest in Teilen aus ehemaligen Partnern des Militärs zusammen.

"Politik muss Sache der Zivilisten sein"

Ashraf Abdel Aziz sieht nun vor allem das Militär in der Pflicht. Es müsse Grundlagen für einen gleichberechtigten Dialog und für eine echte Demokratie im Sudan schaffen. Dafür müsse das Militär auch seine Herrschaft über bedeutende Teile der nationalen Wirtschaft aufgeben und die Besitztümer der Allgemeinheit zur Verfügung stellen, meint der Analyst. Nicht minder wichtig sei, die Gewaltverbrechen der Vergangenheit transparent aufzuarbeiten und sämtliche Milizengruppen aufzulösen. "Die Politik muss Sache der Zivilisten sein."

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika