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Gucci und Folklore

Kyle James (rri)29. September 2007

Lange war Andorra als Hinterwäldlerprovinz verschrien, bis der Tourismus dem Fürstentum in den 1960er Jahren das Tor ins moderne Zeitalter öffnete. Aber das Land ist mehr als angeschnallte Ski und gezückte Kreditkarten.

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Kirche mit kleinem Friedhof in den Bergen (Quelle: DW/Kyle James)
Andorra - verschlafene Kapelle in den Bergen...Bild: Kyle James

Das Fürstentum Andorra auf einer Karte zu finden, ist die erste Herausforderung für den interessierten Besucher. Andorra ist nur etwa zweieinhalb mal so groß wie beispielsweise die Hauptstadt der USA, Washington DC. Das Land liegt in einem Hochtal in der Pyrenäen-Bergkette, an der entlang die spanisch-französische Grenze verläuft.

"Wenn wir ins Ausland reisen und unseren Pass zeigen, hören wir oft, 'Entschuldigung, wo liegt noch mal Andorra? Sind Sie aus Spanien?' Nun, das hören Andorraner ganz und gar nicht gerne", sagt Roser Jordana. Sie ist die Leiterin von Andorras Fremdenverkehrsamt. Ihre Aufgabe, im Ausland für das Fürstentum zu werben, gestaltet sich nicht immer einfach. Ein Grund: das Land geht zwischen den zwei großen Nachbarländern Frankreich und Spanien ein wenig unter. "Wir sind weder Spanier noch Franzosen, wir sind ein unabhängiges Land, und oft hören wir 'Ach, die sind von beidem etwas; sie sind also nichts Eigenständiges'", sagt Jordana. Das sei vollkommen falsch. "Wir haben eine Identität – [wir] sind Andorraner."

Attraktives Steuerparadies

Straßenverkehr - im Hintergrund Berge (Quelle: DW/Kyle James)
...geschäftiges Treiben in den TälernBild: Kyle James

Klein aber fein – und stolz! – so lässt sich Andorra wohl am treffendsten beschreiben. Stolz sind die Andorraner auf die lange, kriegsfreie Geschichte des Landes, auf seine Musik und die Folkloretanz-Tradition, die romanischen Kirchen und die herrliche Berglandschaft. In der Hauptstadt Andorra la Vella mit ihren verstopften Straßen trifft man jedoch auf das kommerziell-touristische Andorra, das mit seinen Geschäften lockt. In den Schaufenstern glitzern Uhren, während Gucci-Handtaschen und Dior-Sonnenbrillen um die Gunst der Käufer werben.

Andorra ist nach wie vor ein Steuerparadies. Auf Güter werden keine oder nur niedrige Steuern erhoben, und so sind besonders Luxuswaren und Zigaretten bedeutend billiger als in Frankreich oder Spanien. In den 1960er Jahren begann das Land aus seinem Steuerstatus Vorteile zu ziehen, und immer mehr Touristen und Gastarbeiter kamen ins Land. Die Folge war ein großes Bevölkerungswachstum. Lebten 1950 noch etwa 6000 Menschen in Andorra, so sind es heute rund 82.000.

"Auf den Fotografien aus den 1950er Jahren erkennt man Andorra beinah nicht wieder. Es war ein völlig anderes Land, ein anderer Arbeits- und Lebensstil", berichtet Susan Vela, die in Andorras Landesarchiv arbeitet. "In den 60ern und 70ern gab es eine regelrechte wirtschaftliche und touristische Explosion unten in den Tälern. Auf die folgte dann in den 80ern und 90ern das Gleiche in den Bergen."

Ausländer an der Staatsspitze

Blick ins Tal von den Bergen (Quelle: DW/Kyle James)
Das Land liegt in einem Hochtal der PyrenäenBild: Kyle James

Hoch auf einem Hügel – entrückt vom emsigen Treiben im Tal – steht Andorras kleines Parlamentsgebäude. Eine Glocke im Inneren des winzigen Plenarsaals läutet die Sitzungen ein. Der Premierminister steht hier einer Versammlung von 28 gewählten Abgeordneten vor. Andorra ist das einzige Land der Welt mit einer Doppelherrschaft. Gleich zwei ausländische Amtsträger nehmen die Funktion des Staatsoberhauptes wahr: der Bischof von Urgell in Spanien und der Präsident von Frankreich. Sie haben jedoch keinerlei Regierungsbefugnis.

Andorra erlangte im Jahr 1278 als eines der ersten Länder der Welt seine Unabhängigkeit. Heute versucht das Fürstentum, aus seiner langen Geschichte und seinem einzigartigen Erbe Profit zu schlagen. Das Angebot des Fremdenverkehrsamts erstreckt sich von Besichtigungen der romanischen Kirchen bis hin zu Wandertouren im Madriù-Tal. Das von Gletschern und steilen Klippen geprägte Madriù-Tal ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und größtenteils von der Urbanisierung verschont geblieben. Früher wurde hier und in Andorras anderen Tälern Eisen gewonnen und in Schmieden verhüttet. Heute sind die Schmieden kleine Museen, und einen Großteil der Arbeitsplätze bietet mittlerweile der Fremdenverkehr, oft in den zahlreichen Skiorten des Landes. Im Sommer werden die Pisten kurzerhand in familienfreundliche Freilandspielplätze umgebaut.

Zurück in der Hauptstadt Andorra la Vella zeigt sich Ramón Villerò unbeeindruckt vom geschäftigen Treiben. Der Journalist und Autor stattet seinem Elternhaus einen Besuch ab. Es steht nicht weit von einer der wichtigsten Geschäftsstraßen entfernt an einem Hang. Ramón sieht ein, dass Andorra auf seine Geschäftswelt angewiesen ist. Dennoch, so sagt er, liegen Andorras Vorzüge nicht in billigen Designergütern. "Wir haben ein Haus in Ordino am Fuß der Berge. Oft wache ich morgens schon gegen sechs Uhr auf, gehe in die Berge und bleibe dort für Stunden. An den entlang Seen wandere ich zurück. Das ist mein Andorra. Dieses Stille abseits all der Geschäfte und der Banken." Ramón wünscht sich, dass Besucher genau dieses Andorra in Erinnerung behalten.