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Politik

Uneins: Flüchtlinge über Neuankömmlinge

Maram Shahatit | Kersten Knipp | Mehyeddin Hussein
14. März 2020

Wie sehen die 2015 nach Deutschland gekommenen Syrer das Schicksal der Flüchtlinge, die jetzt nach Europa wollen? Alle finden: Sie sind Opfer einer inhumanen Politik. Aber da hören die Gemeinsamkeiten schon auf.

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Griechenland Flüchtlinge im Moria Camp, Lesbos
Am meisten leiden die Kinder: Flüchtlingslager Moria auf LesbosBild: Reuters/C. Baltas

"Erdogan missbraucht die Flüchtlinge. Er nutzt sie für seine Zwecke aus und spielt mit ihrem Schicksal. Deswegen muss ihnen geholfen werden." M.S. möchte ihren vollständigen Namen hier nicht nennen. Aber für die vor knapp fünf Jahren nach Deutschland geflüchtete Syrerin gibt es keinen Zweifel: Die Menschen, die sich im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland befinden, sind Opfer einer zynischen Politik. Sie würden nicht als Individuen, sondern nur als Manövriermasse gesehen. Sie seien unbedingt auf Schutz angewiesen, und den fänden sie nur in Europa. Darum sollten die europäischen Länder die Flüchtlinge aufnehmen, meint sie im Gespräch mit der DW.

Etwas anders sieht es Hassan al-Masry. Bei den Menschen, die jetzt an der Grenze zu Griechenland stünden, müsse man genau hinschauen: "Für die, die direkt aus Idlib kommen, sollte man die Grenze öffnen. Aber diejenigen, die bereits seit Jahren in der Türkei leben und dort eine Arbeit haben: Welchen Grund sollten sie haben, nach Europa zu kommen?"

Auch Hassan al-Masry kam vor rund fünf Jahren aus Syrien nach Deutschland, im Jahr 2015, als besonders viele Flüchtlinge aufgenommen wurden. Die Bilanz seines Lebens hier ist durchwachsen. Erleichterung über die eigene Aufnahme mischt sich mit Sorge über das rau gewordene gesellschaftliche Klima. "In Deutschland nimmt der Rassismus zu", sagt er im DW-Interview. "Der Aufstieg dieser rechten Partei (der AfD) ist kein Segen." 

Flüchtling nicht gleich Flüchtling

Die beiden Beispiele zeigen: Die bereits in Europa angekommenen Syrer bewerten die Aufnahme neuer Flüchtlinge unterschiedlich - da sind M.S. und al-Masry nicht die einzigen.

Griechenland Soldaten an der Grenze zur Türkei in der Evros-Region
Griechische Soldaten gehen gegen Flüchtlinge aus der Türkei vor, die die Grenze überwinden wollenBild: picture-alliance/ANE

Aufgenommen werden sollten vor allem diejenigen, die wirklich in Not sind, findet Ahmad Mahmoud, auch er 2015 nach Deutschland geflohen. Die Menschen seien von Erdogan ausgenutzt worden. Er habe sie mit falschen Versprechungen an die Grenze gelockt. Den wirklich Bedürftigen müsse man helfen - aber im Rahmen der juristischen Möglichkeiten. Illegale Grenzübertritte lehnt er ab. "Ansonsten werden die Menschen hier die Flüchtlinge noch stärker ablehnen", sagt er der DW.

Diese Ablehnung nimmt Mustafa, der eigentlich anders heißt, nicht so wahr. In Deutschland gebe es zwar auch arrogante, den Schutzsuchenden gegenüber feindlich eingestellte Menschen. Doch die allermeisten hätten nichts gegen die Neuankömmlinge. "Der Rassismus ist in Deutschland geringer als anderswo," glaubt er. Darum appelliert er an die deutsche Gesellschaft, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. "Diese Menschen haben Bomben und Zerstörung erlebt und leben nun in dauernder Angst. Ihnen sollte geholfen werden."

Überwiegend eine Erfolgsgeschichte

So unterschiedlich ihre Ansichten zur Einreise von neuen Flüchtlingen sind, so unterschiedlich sind auch die Erfahrungen, die die 2015 in Deutschland Aufgenommenen gemacht haben, sagt Karl Kopp, Europa-Referent bei Pro Asyl.

Belgien Gespräch von der Leyens mit Erdogan ohne erkennbares Ergebnis
Zyniker? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, in Brüssel im März 2020Bild: AFP/J. Thys

"Diejenigen, die einen Flüchtlingsstatus haben, haben zwar auch viele Härten und Schwierigkeiten erlebt. Aber trotzdem bemühen sie sich unserer Erfahrung nach, sich möglichst rasch in Deutschland zu integrieren. Die meisten sagen, sie seien froh, in Sicherheit zu sein. Rund 50 Prozent der damals nach Deutschland Geflüchteten sind mittlerweile in Arbeit. Ob sie nun in einer Anstellung arbeiten, selbständig sind oder hier studieren, sie alle dürften wohl eine Erfolgsgeschichte erzählen."

Anderen Migranten gehe es hingegen weniger gut. "Wir kennen auch viele Menschen, die nur einen subsidiären Schutzstatus haben", berichtet Karl Kopp. "Das blockiert ihre Familienzusammenführung und zögert sie auf lange Zeit hinaus." Das setze den Betroffenen erheblich zu. "Denn ihre Verwandten sind immer noch als Flüchtlinge unterwegs oder befinden sich sogar noch im Kriegsgebiet."

Türkei Migranten an der griechisch-türkischen Grenze
Flucht gestoppt: Migranten aus der Türkei am Grenzzaun zu GriechenlandBild: picture-alliance/AP/D. Bandic

Insgesamt, so Kopp, werde man bei den Schutzsuchenden eine gemischte Bilanz finden. "Diejenigen, die einen Flüchtlingsstatus bekommen haben, werden dankbar sein und Teil der deutschen Gesellschaft werden wollen."

Das Bewusstsein, Glück gehabt zu haben

In einem sind sich alle Interviewpartnerinnen und -partner einig: Die Fluchtmöglichkeiten haben sich seit 2015 massiv verschlechtert. Ahmad Mahmoud erzählt seine Geschichte: "Bis 2014 lebte ich in dem Gebiet, das dann der 'Islamische Staat' unter seine Kontrolle brachte. Darum bin ich geflohen. Ich kam durch die kurdischen Gebiete in Syrien in die Türkei, blieb dort drei Tage, dann ging es weiter nach Griechenland. Dort gab es viele Organisationen, die uns geholfen haben weiterzureisen." Heute, stellt er fest, hätten es die Flüchtlinge viel schwerer. Heute sind viele Grenzen geschlossen und Europa nimmt weniger Schutzsuchende auf.

Die damals Geflüchteten teilten mit den jetzt Schutzsuchenden eine Erfahrung, fügt Karl Kopp hinzu. "Die meisten kennen die Situation, in der sich die Menschen an der türkisch-griechischen Grenze jetzt befinden. Sie sind diesen Weg ja auch gegangen. Wie sie sind sie über Lesbos gekommen. Sie kennen die Orte. Sie kennen das Meer, sie kennen die Schönheit der Landschaft, sie kennen aber auch die tödlichen Gefahren dieser Route." Die derzeitige Situation mache den 2015 Geflüchteten bewusst: "Sie haben Glück gehabt, einfach deshalb, weil sie zu einem früheren Zeitpunkt gekommen sind."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika