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Özdemir: "Erdoğan muss den Volkswillen respektieren"

Deger Akal26. Oktober 2015

Am kommenden Sonntag finden in der Türkei die vorgezogenen Parlamentswahlen statt. Im DW-Interview fordert der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir die Einhaltung demokratischer Spielregeln.

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Cem Özdemir (Foto: imago/Müller-Stauffenberg)
Bild: imago/Müller-Stauffenberg

DW: In der Türkei wird zunehmend polarisiert, die politische und gesellschaftliche Spannung steigt. Steht die türkische Demokratie an einem Scheideweg?

Özdemir: Ja. Aber eigentlich stand die Türkei auch vor der letzten Wahl am 7. Juni an einem Scheideweg. Die türkische Demokratie hat da große Reife gezeigt und die Situation gemeistert. Aber was ist dann passiert? Präsident Erdogan hat nicht das bekommen, was er sich gewünscht hat. Und dann hat man in Ankara die Regierungsbildung verhindert. Das ist kein demokratischer Ansatz. Herr Erdogan muss dieses Mal den Volkswillen respektieren und die Ergebnisse akzeptieren.

Der Friedensprozess mit den Kurden ist auf Eis gelegt worden. Was sollte jetzt getan werden?

Der einzige Ort, wo man eine Lösung für dieses Problem finden kann, ist das Parlament. Das Blutvergießen muss unverzüglich aufhören. Beide Seiten müssen sich über ihre Verantwortung und ihre Aufgaben im Klaren sein. Das Kurden-Problem kann nicht mit Waffen gelöst werden, daher muss es einen Waffenstillstand geben. Die Entscheidung der PKK für einen Waffenstillstand sehe ich positiv. Ich finde sogar, dass man diese Entscheidung früher hätte treffen müssen. Die Waffen sollten dauerhaft schweigen, nie wieder in die Hand genommen werden. Ich denke, der Vorsitzende der HDP Selahattin Demirtaş hat Recht wenn er sagt, dass es keinen anderen Ort für eine Lösung gibt als das Parlament. Es gibt keinen anderen Weg.

Nach den Terroranschlägen in Reyhanlı, Suruç und Ankara meinen viele, dass die Türkei destabilisiert werden könnte wie Syrien. Was halten Sie davon?

Die Türkei hat in Syrien eine Politik nach dem Motto "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" verfolgt und das hat nicht funktioniert. Ankara hat den IS lange Zeit geduldet oder sogar unterstützt. Diese Politik hat dem Land, der Region, aber vor allem dem syrischen Volk geschadet. Von jetzt an müssen alle Länder - die Türkei, Russland, Saudi Arabien - damit aufhören, in Syrien eigene Ziele zu verfolgen. Unter dem Dach der UN sollte eine gemeinsame Strategie entwickelt werden. Kern dieser Strategie sollte ein Waffenstillstand und Hilfeleistung für die Menschen sein. Danach sollte in Syrien eine Übergangsregierung gebildet werden, die alle Teile der Gesellschaft einschließt, aber den IS komplett ausschließt. Früher oder später sollte Assad zurücktreten und sogar Syrien verlassen.

Wie steht es mit der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei?

Als die Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der EU begonnen haben, sagte der Schriftsteller Orhan Pamuk: "Meine Generation wird berühmt werden ohne ins Gefängnis zu kommen." Aber wir beobachten, dass die Türkei sich zurzeit nicht fort- sondern rückentwickelt. Heutzutage kommen wieder türkische Journalisten, Autoren und Intellektuelle ins Gefängnis. Die Menschen, die in der Türkei für die Demokratie kämpfen, sind nicht alleine. Wir sind, genauso wie früher, mit ihnen, wir werden sie weiterhin unterstützen.

Viele in der Türkei, die den EU-Beitrittsprozess unterstützen und mehr Demokratie fordern, fühlen sich enttäuscht von der EU. Können Sie das nachvollziehen?

Ja, das kann ich sehr gut. Aber wir von den Grünen, genau so wie die Sozialdemokraten und die Linkspartei, ja sogar die Christdemokraten, wir alle unterstützen die Parteien, die in der Türkei für die Demokratie kämpfen. Der Kampf von Herrn Kilicdaroglu (Vorsitzender der CHP) und Herrn Demirtaş (Vorsitzender der HDP) ist nicht nur ein Kampf der türkischen Demokratie sondern ein Kampf für die universellen demokratischen Werte. In vielen Ländern auf der Welt versuchen dunkle Kräfte im eigenen Land einen Bürgerkrieg anzuzetteln und aus Brüdern Feinde zu machen. Wir sind an der Seite deren, die gegen diese Kräfte kämpfen.

Das Interview wurde von Deger Akal in türkischer Sprache geführt.

Cem Özdemir ist seit November 2008 Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen. 1994 wurden Cem Özdemir und Leyla Onur die ersten Bundestagsabgeordneten mit türkischen Eltern in den Deutschen Bundestag gewählt.