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Alles hyper?

Marcus Bösch24. September 2002

Hölderlin und Hypertext: Literatur ist im Internet angekommen. Kostenlos und bildschirmfreundlich. Aber wo findet man was? Und wie war das noch mal mit der digitalen Revolution der Literatur?

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Auch er kann jetzt endlich online Theodor Storm lesenBild: AP

In der kroatischen Hafenstadt Rijeka gibt es kein einziges deutsches Buch zu erwerben. Zumindest nicht in dem Kaufhaus in der Fußgängerzone. Die verzweifelte Suche nach heimischer Urlaubslektüre endet schließlich in der Elektronikabteilung im Erdgeschoss. Für umgerechnet fast sechs Euro kann man hier 30 Minuten im Internet surfen. Und zumindest online wird der Literaturfreund schnell fündig. Dem guten, alten Gutenberg sei Dank.

Klassische Kost

Unter dem Namen Gutenbergprojekt findet sich im Internet eine der renommiertesten und bekanntesten Literatur-Websites in Europa. Kostenlos und bildschirmfreundlich findet der interessierte Leser hier rund 250.000 Textseiten Literatur. "Mit Max und Moritz und 30 schwäbischen Märchen hat alles angefangen", erklärt der Initiator des Gutenbergprojektes, Gunter Hille, im Gespräch mit DW-WORLD. Angeödet von ausschließlich englischem Content, beschloss der Informatiker 1992, deutsche Literatur ins Internet zu stellen.

Inzwischen reicht seine literarische Sammlung von Aesop bis Zola. Drei Millionen Pageviews im Monat sprechen dabei für sich. Eine stetig steigende Zahl von Usern erfreut sich an 10.000 Gedichten und mehr als 1.000 vollständigen Romanen, Erzählungen und Novellen. "Wir bekommen begeisterte Mails aus der ganzen Welt", erzählt Hille. Besonders Deutsche im Ausland nutzen die Möglichkeit fern der Heimat in deutschem Kulturgut zu schmökern.

Mainz
Denkmal GutenbergBild: DW

Hilfe, Hyperfiction!

Wem das zu bedächtig erscheint, sei ein Ausflug in die Welt der Hyperfictions empfohlen. Im Gegensatz zur herkömmlichen Literatur im Netz, stehen hier die Möglichkeiten des Internets als eigenes Stilmittel im Vordergrund: Technik, Interaktivität und Kommunikation. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Hypertext: das nicht-sequentiellen Schreiben und Verweisen.

"Für den Leser soll es so sein, als wenn er im Theater zugleich zuschaut und auf der Bühne steht", erklärt Susanne Berkenheger. Die Werke der Netzliteratin ("Zeit der Bombe", "Hilfe!") gelten heute neben den Arbeiten des Amerikaners Michael Joyce bereits als Klassiker des Genres. Trotz anfänglicher Euphorie und allgemeinem Internettaummel Mitte der neunziger Jahre kann sich das Genre inzwischen jedoch nur noch schwerlich behaupten.

Keine Experimente?

"Eine digitale Revolution des Literaturbetriebs hat einfach nicht stattgefunden", konstatiert Berkenheger. Von einem Wendepunkt für die abendländische Kultur ist heute nicht mehr die Rede. Zu entdecken gibt es aber immernoch mehr oder minder innovative Projekte aus dem deutschsprachigen Raum. Der "Assoziations-Blaster" beispielsweise verlinkt automatisch eingetragene Texte miteinander und erzeugt so neue Texte.

Kommt einem dabei die Experimentierfreude abhanden, kann man beim Gutenbergprojekt getrost wieder auf klassische Kost zurückgreifen. Wenn man Zeit hat vielleicht auf den kompletten "Schimmelreiter" von Theodor Storm. Oder ein wenig Lyrik, wenn man es eillig hat. Und während die Zeit im improvisierten Internetcafe abläuft und das kroatische Einkaufsradio plärrt, stolpert man vielleicht über eine Zeile von Andreas Gryphius: "So werden wir verjagt gleich wie ein Rauch von Winden". Und dann sind die 30 Minuten auch rum.