1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Ausländer stehen derzeit nicht Schlange"

16. November 2010

Der Befund zweier neuer Studien aus der deutschen Wirtschaft ist ebenso eindeutig wie beunruhigend: Hochqualifizierte und Fachkräfte aus dem Ausland machen zunehmend einen Bogen um die Bundesrepublik.

https://p.dw.com/p/QABs
Ein Mitarbeiter des Maschinenherstellers Gildemeister Foto: dpa)
Haben ausländische Fachkräfte in Deutschland bald Seltenheitswert?Bild: picture-alliance/dpa

Deutschland ist nach zwei neuen - fast zeitgleich bekannt gewordenen - Studien für ausländische Fachkräfte nur noch mäßig attraktiv. So heißt es in einer Erhebung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), ungeachtet des absehbar hohen Bedarfs an qualifizierten Zuwanderern tue die Bundesrepublik zu wenig, um Experten aus anderen Staaten anzulocken. Die Information ist der "Frankfurter Rundschau" entnommen, die über die noch unveröffentlichte DIHK-Untersuchung in ihrer Dienstagsausgabe (16.11.2010) berichtete.

Nachholbedarf hat Deutschland demnach unter anderem bei der "Willkommenskultur". Junge, qualifizierte Türken gaben gegenüber den Auslandskammern an, sie empfänden sich in Deutschland als unerwünscht; Polen beschwerten sich über das ihnen anhaftende Image "des Spargelstechers und Baugehilfen".

Deutsche Sprache als Hauptproblem

DIHK-Präsident Hans Heinrich Driftmann (Foto: DW)
In Sorge: DIHK-Präsident Hans Heinrich DriftmannBild: DW-TV

"Ausländische Fachkräfte und Studenten stehen derzeit nicht Schlange, um ihre Fähigkeiten in Deutschland einzubringen; das sollte uns Sorgen machen", sagte DIHK-Präsident Hans Heinrich Driftmann der "Frankfurter Rundschau".

Nach einer Umfrage unter 47 Außenhandelskammern landet die Bundesrepublik auf der Skala zwischen eins ("attraktiv") und fünf ("unattraktiv") gerade einmal bei einem Wert von 2,8.

Goethe-Institute fehlen

Als Hauptproblem wird dem Bericht zufolge die Sprache genannt. In Konkurrenz zum Englischen oder Französischen ziehe die deutsche Sprache oft den kürzeren, weil sie nicht mehr gelernt werde. Dies liege auch daran, dass aufgrund von Sparzwängen weltweit Goethe-Institute geschlossen würden und der Deutsche Akademische Austauschdienst sowie Auslandsschulen ihre Angebote reduzierten.

Kritik üben die Kammern zudem an komplizierten, intransparenten und regional voneinander abweichenden Bestimmungen für Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen in Deutschland. Aus mehr als einem halben Dutzend EU-Mitgliedsländern gebe es regelmäßig Beschwerden, dass dortige Berufsabschlüsse oder Diplome in Deutschland nicht anerkannt würden.

"Mit mehr Herz statt kalter Schulter"

Deutsche und ausländische Mitarbeiter eines Berliner Technologie-Unternehmens (Foto: dpa)
Deutsche und ausländische Mitarbeiter eines Berliner Technologie-UnternehmensBild: dpa

Als praxisfern wird laut der DIHK-Studie auch kritisiert, dass ausländische Studenten sich innerhalb eines Jahres eine Arbeitserlaubnis wie auch einen Job beschaffen müssten. Dies habe in der jüngsten Wirtschaftskrise dazu geführt, dass etwa gut ausgebildete Akademiker Deutschland den Rücken gekehrt hätten.

Der Industrie- und Handelskammertag empfiehlt daher, zumindest für Ingenieure und IT-Fachleute die Zugangshürden zu senken. Generell müsse auch die Einkommensgrenze, von der an ausländischen Bewerbern eine sofortige Genehmigung zur Niederlassung erteilt wird, von derzeit 66.000 auf 40.000 Euro im Jahr reduziert werden. Insgesamt - so das Fazit Driftmanns in der "Frankfurter Rundschau" - müsse die Bundesrepublik Zuwanderungswilligen "mit mehr Herz statt kalter Schulter" begegnen.

Dies dürfte auch das Credo des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung sein, dessen neueste Studie sich ebenfalls mit ausländischen Fachkräften - und zwar mit hochqualifizierten - beschäftigt. Danach ist Deutschland als Einwanderungsziel für Hochqualifizierte aus dem Ausland nicht mehr erste Wahl, sondern allenfalls die zweit- oder drittbeste Lösung.

Die im Auftrag der Gütersloher Bertelsmann Stiftung erstellte Untersuchung kommt nämlich zu dem Schluss, dass die Bundesrepublik zwischen 2005 und 2009 jährlich etwa 1500 Führungskräfte und Wissenschaftler an andere EU-Staaten verloren habe. Länder wie Schweden, Spanien, Österreich, Großbritannien und Belgien seien hier inzwischen deutlich attraktiver als Deutschland.

Der Chef der Bertelsmann Stiftung, Gunter Thielen (Foto: dpa)
Fordert neue Einwanderungs- politik: der Chef der Bertelsmann-Stiftung, Gunter ThielenBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Ob die Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für die osteuropäischen EU-Länder im nächsten Jahr die Situation grundlegend verändern werde, sei noch ungewiss, sagte der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, Gunter Thielen. Notwendig sei darum eine neue Einwanderungspolitik.

"Wir können uns dabei an erfolgreichen Einwanderungsgesellschaften orientieren und das Beste aus den unterschiedlichen Systemen der Zuwanderungssteuerung übernehmen", so Thielen weiter. Die Stiftung empfehle eine Kombination der in Kanada oder Großbritannien praktizierten Modelle, die vor allem auf die Qualifikation der Zuwanderer setzten, mit Modellen wie in Schweden, die sich enger am Arbeitsmarkt orientierten.

Autor: Stephan Stickelmann (afp, kna, dpa)
Redaktion: Marko Langer