1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Bachs Burnout?

Anastassia Boutsko / Rick Fulker27. Dezember 2013

Ein neu entdeckter Brief beweist: Johann Sebastian Bach hat in den letzten Lebensjahren seine Amtsgeschäfte stark vernachlässigt. Amtsmüdigkeit, Sehbehinderung oder kluges Kräftemanagement?

https://p.dw.com/p/1AhKY
Johann Sebastian Bach
Bild: ullstein bild - Archiv Gerstenberg

Kurz vor Weihnachten sorgten die Wissenschaftler des Bach-Archivs Leipzig für eine Sensation in den Fachkreisen: Im Archiv der Stadt Döbeln in Sachsen hatte der Musikwissenschaftler Michael Maul ein Bewerbungsschreiben aus dem Jahre 1751 entdeckt, knapp ein Jahr nach dem Tod Johann Sebastian Bachs.

Darin bewirbt sich Gottfried Benjamin Fleckeisen, ehemaliges Mitglied des Leipziger Thomanerchors und somit Bach-Schüler, um eine Stelle als Kantor in der Kirche seiner Heimatstadt Döbeln. Unter anderem gibt er in dem Schreiben an, er habe "zwei ganze Jahre" die Musik an den beiden Kirchen St. Thomas und St. Nikolai in Leipzig "aufführen und dirigieren müssen" und dabei "allezeit mit Ehren bestanden". Aus Fleckeisens Biografie lässt sich rekonstruieren, dass es sich hierbei wahrscheinlich um den Zeitraum zwischen 1744 und 1746 handelt.

Man wusste zwar, dass Bach besonders in seinen späten Jahren versuchte, sein Tagesgeschäft zu reduzieren, um Freiräume für andere Sachen (etwa fürs Ordnen seines Werkes) zu schaffen. Dass er aber in so großem Stil seine Kernaufgaben delegiert hatte, ist neu.

Soli Deo Gloria S.D.G.
"Soli Deo Gloria" schrieb Bach über diese PartiturBild: picture-alliance/akg-images

Innere Emigration

"Es besteht eine große Diskrepanz zwischen dem weltweiten Ruhm, den Bachs Musik heute hat, und dem, was wir über die Person wirklich wissen" unterstreicht Michael Maul im DW-Interview. Maul ist Leiter des Projekts "Systematische Erkundung der Lebenswege von Bachs Thomanern" beim Leipziger Bacharchiv. Schon deswegen ist jeder neue Hinweis so wertvoll.

Von 1723 bis zu seinem Tod 1750 war Johann Sebastian Bach für die Kirchenmusik in Leipzig zuständig. Bei der Anstellung als Thomaskantor war Bach erst "die dritte Wahl". Für ihn selbst war der Posten in Leipzig ebenfalls kaum ein Traumjob. Protokolle der Ratssitzungen im Laufe der Jahre zeugen von zahlreichen großen und kleinen Konflikten mit dem als "unfleißig" und "incorrigibel" bezeichneten Kantor. Er wiederum hielt die städtische Kulturpolitik für verfehlt.

Bei alledem ging die Forschung dennoch stets davon aus, dass Bach seiner Amtspflicht stets treu nachgegangen ist. Nun nimmt man staunend zur Kenntnis: "Dass ein Präfekt ihn vollumfänglich vertreten hat, und zwar, für so eine lange Zeit, das hat sich keiner vorstellen können", so Michael Maul im DW-Interview. Konnte sich das der weit und breit hochgeachtete Musikus mit dem Ehrentitel "kurfürstlicher sächsischer Hofkompositeur" leisten? "Es wundert mich, dass der Leipziger Rat das zugelassen hat" sagt Maul. "Wir wissen nicht, ob Bach diese Entscheidung selber getroffen hat. Oder war es tatsächlich eine Ratsentscheidung?"

PD Dr. habil. Michael Maul vom Bacharchiv Leipzig
Bach-Biographien müssen vielleicht neu geschrieben werden, sagt Dr. Michael MaulBild: Michael Maul/Bach-Archiv Leipzig

Bekannt ist, dass Bach irgendwann das Privileg, künftige Thomaner persönlich auszuwählen, verlor. 1749 kam dann eine Aktion, die man heute sogar als "Mobbing" bezeichnen könnte. Unter der Nase des Komponisten wurde ein Probespiel für seinen Nachfolger veranstaltet. Für einen Musiker in einer Anstellung auf Lebenszeit war das ein starker Affront.

Warum vernachlässigte der fleißige deutsche Musiker seine Amtspflicht? War er amtsmüde, gar depressiv? Angesichts des sensationellen Funds sprachen deutsche Musikjournalisten schnell, vielleicht vorschnell, vom "Burnout Bachs".

Modeworte und Ferndiagnosen

Schädelguss des Komponisten und Rekonstruktion seines Gesichts
"Bach im Spiegel der Medizin" hieß eine Ausstellung im Eisenacher Bachhaus im Jahr 2008Bild: picture-alliance/ dpa

Dr. Wolfram Görtz warnt vor Diagnosen aus zeitlicher Ferne. Der Mediziner und Musikwissenschaftler ist Koordinator der Musikerambulanz am Universitätsklinikum Düsseldorf. Er schrieb eine Magisterarbeit über die Bach-Kantaten. "Ein Burnout ist relativ schwer zu fassen", so Görtz, "und wenn es eine Depression war, hätte Bach nicht so komponieren können, wie er es in seinem letzten Lebensjahrzehnt tat".

Von Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühl oder gar Verlust des Lebenssinns kann also angesichts der "Kunst der Fuge" und der "H-Moll Messe" keine Rede sein. Im Gegenteil, so Görtz: "Der Mensch Bach liebte schnelles und effizientes Arbeiten. Er liebte Frauen, vor allem seine eigenen, und er liebte die Musik!"

Görtz hat eine andere Erklärung für den beruflichen Rückzug: "Wir dürfen nicht vergessen, dass Bach schlecht gesehen hatte und womöglich bestimmte Alltagsdinge aufgrund seines Augenleidens nicht erledigen konnte".

Bach als Lebenskünstler

Peer Abilgaard, Chefarzt am "Helios"-Klinikum in Duisburg und Professor für Musikergesundheit an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln, pflichtet dem Kollegen bei: Bach ist für ihn ein Phänomen, gerade was den Umgang mit Belastungen angeht. "Er war neun Jahre alt, als er beide Eltern verloren hat. Er war zwölf, als sein Bruder, seine nächste Bezugsperson, starb. Er konnte sich von seiner geliebten ersten Frau nicht einmal verabschieden - sie starb, als er auf einer Dienstreise war. Von seinen 20 Kindern musste er zehn selber beerdigen. Ich finde es viel interessanter zu fragen, wie er es geschafft hat, allen Belastungen zum Trotz, so ein umfangreiches Oeuvre zu schaffen?"

Und zwar ein Oeuvre, dass alles andere als nur dem Leiden gewidmet ist, sondern bis heute den Menschen Trost und Lebenskraft schenkt. Bach war ein ganz großer Meister, was das Management seiner Kräfte, seelischer wie physischer, anbelangt, so das Fazit der Fachleute. Da wäre es sehr verständlich, dass er Aufgaben, die er für lästig und zweitrangig hielt, souverän loszuwerden wusste.

Johann Sebastian Bach
Das unscharfe Bild von Bach als Mensch ist ein wenig klarer gewordenBild: picture alliance / akg-images

Kein Bock auf Kirchenmusik?

Aus dem letzten Lebensjahrzehnt Bachs sind kaum Kirchenmusikwerke überliefert worden. Bisher ging man davon aus, diese seien nach seinem Tod von verantwortungslosen Erben verscherbelt worden. Nun scheint es, dass "die angeblich verschollenen Werke wahrscheinlich gar nicht erst komponiert worden sind," so Michael Maul.