1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Betonköpfe

Henrik Böhme24. Juni 2003

35-Stunden-Woche für alle: Den Tarifkonflikt in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie und dessen Absurditäten, auch im Verhältnis von Ost und West, kommentiert Henrik Böhme.

https://p.dw.com/p/3mMq

Um es gleich klar zu stellen: Es geht beim Streik der ostdeutschen Metaller eigentlich gar nicht um die 35-Stunden-Woche. Sondern es geht um Macht, um Posten, ums Überleben. Gesteuert wird der Streik aus der Frankfurter Zentrale der Industriegewerkschaft Metall - und das ist noch immer die zweitgrößte Einzelgewerkschaft der Welt. Nur: In Ostdeutschland hat sie kaum noch Mitglieder. Deswegen haben zwar 85 Prozent der Metallarbeiter in Sachsen für diesen Streik gestimmt - aber die knapp 10.000 Ja-Stimmen entsprechen nicht mal zehn Prozent der insgesamt dort Beschäftigten.

So kommt es, dass die Gewerkschaft Streik-Unterstützer von West nach Ost schicken muss, damit die Streikfront hält. Weil nun aber durch den Produktionsausfall in den ostdeutschen Werken die Bänder in München bei BMW und bald auch bei Volkswagen in Wolfsburg angehalten werden müssen, gerät die Gewerkschaft immer weiter in die Klemme. Denn sie muss nun auch ihren Mitgliedern im Westen erklären, warum die in Kurzarbeit geschickt werden.

Was eigentlich vereinen sollte - die 35-Stunden-Woche in Ost und West - das entzweit die Belegschaften nun erst recht. Der Kampf um gleiche Arbeitszeiten bei Opel in Rüsselsheim (West) und bei Opel in Eisenach (Ost) - er ist nur ein Vorwand. Die Gewerkschaftsfunktionäre in Frankfurt am Main und anderswo haben Angst, weil ihr einst mächtiger Einfluss zunehmend schwindet.

So also haben sie gesucht, worum es sich noch zu kämpfen lohnt - und sind losgezogen: in das letzte Gefecht. Sie haben in unverantwortlicher Weise einen Streik vom Zaun gebrochen, dessen wirkliche Folgen erst später zu besichtigen sein werden. Zumal die Auseinandersetzung auf dem Rücken einer Branche ausgetragen wird, die wie keine zweite im Osten Deutschlands investiert hat. Mehr als 100.000 Arbeitsplätze hat die Autoindustrie zwischen Leipzig und Ludwigsfelde geschaffen.

Sicher wird am Ende der Auseinandersetzung die Zahl 35 irgendwo in den Verträgen stehen. Doch damit verliert die ostdeutsche Wirtschaft - oder besser: das, was von ihr geblieben ist - einen ihrer wenigen Vorteile: nämlich den der günstigeren Lohnkosten. Die billigere Konkurrenz wartet nur ein paar Hundert Kilometer weiter im Osten: Opel produziert im polnischen Gliwice bei gleicher Qualität um 80 Prozent günstiger. Nach dem Streik wird es nur Verlierer geben: Der Standort Ostdeutschland wird unattraktiver. Die Gewerkschaft wird verloren haben. Der Aufschwung Ost, ohnehin dürftig genug, wird noch länger auf sich warten lassen.