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Bildergeschichten: Aufgewacht?

Tillmann Bendikowski17. März 2014

Wir stellen jede Woche ein Bild vor und erzählen seine Geschichte. Diesmal gehen wir zurück in das Jahr 1924: Königsberg setzt "dem deutschen Michel" ein Denkmal

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Königsberg - Der Deutsche Michel
Bild: ullstein

Schlafmützigkeit sieht anders aus – hier gibt sich der "deutsche Michel" erkennbar als starker Mann. Den Dreschflegel geschultert, den muskulären Körper leger mit einem Schurz bedeckt, schreitet er barfuß seinem Werk entgegen (wenngleich bei jeder Arbeit auf dem Feld festes Schuhwerk eigentlich von Vorteil wäre). Das Denkmal wird 1924 in Königsberg errichtet, geschaffen hat es bereits fast 30 Jahre zuvor der Künstler Friedrich Reusch, zwischenzeitlich Direktor der örtlichen Kunstakademie. Michel wird also auf den Sockel gehoben, obwohl er doch lange Zeit auch ein wenig nationale Lachnummer war. Taugt er für ein Denkmal?

Die historischen Wurzeln der Gestalt reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück, doch erst vor der Revolution von 1848 wird Michel zu einem populären und in ganz Deutschland bekannten Symbol. Er wird mit dem deutschen Patrioten gleichgesetzt, gilt als gutmütig, fleißig, ehrlich und – sagen wir es vorsichtig – eher durchschnittlich. Man habe ihm "eine reiche Dosis Schwerfälligkeit und gutmüthiger Unklugheit beigelegt", heißt es 1846 in einem Lexikon, "um in ihm die Thorheiten und Verkehrtheiten der deutschen Nation" zu personifizieren. Denn das Land gilt der liberalen Freiheitsbewegung als verschlafen – ihm gilt der Weckruf: "Wach auf, deutscher Michel!"

Im Verlauf der weiteren deutschen Geschichte dient Michel zumeist als Stereotyp, wenn es um die angebliche Begriffsstutzigkeit der Deutschen geht. Die Linke beruft sich ungern auf ihn, weil er eher den Kleinbürger oder Bauern verkörperte, nie aber den Arbeiter. Hingegen beginnt die nationale Rechte mit der Umdeutung der Figur: Sie stilisiert Michel zum erdverwachsenen Verteidiger der deutschen Scholle – gerade in den Ostprovinzen wie in Königsberg ist diese Interpretation populär. Und im Ersten Weltkrieg ist Michel nicht mehr selbst Zielscheibe des Spotts, sondern macht in der Propaganda selbst Deutschlands Feinde lächerlich.

Im "Dritten Reich" verschwindet Michel aus der Öffentlichkeit. "Das Attribut der Schlafmütze, Zipfelmütze paßt nicht mehr zu der erwachten jungen Generation, die kühn und selbstbewußt ihren Weg geht", erklärte Propagandaminister Goebbels das Aus für den Michel. Aber der gutmütige Gesell wird auch die Nazis überleben (anders als das Königsberger Denkmal, das im Krieg zerstört wird). Heute noch gibt es die Figur in der politischen Karikatur – aber weil diese zunehmend vom Aussterben bedroht ist, scheint es auch mit dem Michel allmählich doch zu Ende zu gehen.