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"Das absolute Ende des deutschen Judentums"

Das Gespräch führte Martin Schrader27. Januar 2005

"Auschwitz ist ein Symbol des Nazi-Mordens, aber es hat an vielen Orten über mehrere Jahre stattgefunden", sagt Blumenthal im DW-WORLD-Gespräch. Die nationale Verantwortung dafür muss Deutschland weiter tragen.

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W. Michael Blumenthal ist der Direktor des Jüdischen Museums in BerlinBild: Sönke Tollkühn

DW-WORLD: Am 27. Januar jährt sich der Tag der Befreiung von Auschwitz zum 60. Mal. Welche Bedeutung hat dieses Ereignis aus jüdischer Sicht?

W. Michael Blumenthal: Auschwitz ist in der deutschen und jüdischen Geschichte Symbol des Nazi-Mordens geworden. Es ist ein Stichwort, aber das Morden hat an vielen Orten über mehrere Jahre stattgefunden. Meiner Meinung nach ist - ohne das herunterzuspielen - die Befreiung von Auschwitz eher von symbolischem Wert.

Glauben Sie, dass die Erinnerung an den Holocaust mit dem Sterben der Zeitzeugen nachlässt?

Natürlich. Mit dem Tod der Zeitzeugen wird sich auch die Qualität des Gedenkens an den Holocaust ändern, alles wird nur noch aus zweiter Hand überliefert. Ich glaube aber, dass es immer ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte bleiben wird. Das Interesse auch der jungen Leute an den Hintergründen ist immer noch sehr groß. Aber man wird anders darüber denken, als geschichtliches Ereignis, das eine Verantwortung mit sich bringt. Das wird weiter bestehen, und das ist wichtig. Man muss den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung verstehen. Schuldig sind die neuen Generationen nicht für die Taten ihrer Vorfahren, aber sie haben eine nationale Verantwortung. Ich glaube, die wird aber auch weiterhin wahrgenommen werden.

Wie hat sich das Gedenken an den Holocaust in Deutschland im Laufe der Zeit geändert?

Als ich das erste Mal wieder 1953 nach Deutschland kam, stand das Land unter dem Trauma der Vergangenheit. Die Deutschen wollten und konnten gar nicht darüber reden. Viele waren noch Nazis, auch in wichtigen Positionen. Die Leute fühlten sich schuldig, konnten es aber nicht ausdrücken. Man konzentrierte sich mehr auf den Aufbau des Landes. Das hat sich mit dem Aufkommen einer neuen Generation Anfang der 1970er ein bisschen geändert. Heute stelle ich mit Genugtuung fest, wie ehrlich sich die Deutschen mit der Geschichte befassen und versuchen, soweit es geht die Konsequenzen zu ziehen. Das Trauma besteht noch, aber auf andere Art und Weise: Man ist gegenüber Juden sehr vorsichtig und empfindlich.

Welche Bedeutung hat das Ende des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Sicht für die deutsch-jüdische Geschichte?

Es bedeutete das absolute Ende des deutschen Judentums, wie es vorher viele Jahrzehnte, Jahrhunderte war. Die deutsch-jüdischen Bürger zur Zeit meiner Kindheit, meiner Eltern und Großeltern, Urgroßeltern und der Zeit davor waren eine richtige Gruppe innerhalb der deutschen Gesellschaft, und diese Zeit war zu Ende.

Welche Bedeutung hat das Kriegsende heute für Juden außerhalb Deutschlands, die nicht direkt betroffen waren?

Ich glaube, das hat auch auf die einen tiefen Eindruck hinterlassen, die die Machenschaften der Nazis nur aus der Ferne beobachteten. Die Bedeutung der Vernichtung von Millionen Glaubensgenossen ist ein Teil jüdischer Geschichte geworden. Jede Universität hier im Land (USA) beschäftigt sich mit diesem Teil der Geschichte, die Bedeutung ist in den Köpfen junger jüdischer Studenten fest verankert. Dieser Eindruck wird im jüdischen Gedächtnis viele Jahrzehnte weiter da sein.

Wie gedenken Juden in den USA des Kriegsendes heute?

Ich glaube, das ist sehr persönlich und individuell. Meiner Meinung nach zieht man aber aus dem Geschehen vor allem folgenden Schluss: Man kann nie sicher sein, dass Antisemitismus nicht in schreckliche Formen ausartet. Deshalb muss man sehr aufmerksam das Aufflammen von Antisemitismus beobachten und versuchen, sich dagegen zu wehren. So wie beispielsweise jetzt im Zuge des Nahost-Konflikts: Hier wird oft Antisemitismus und Anti-Israelismus vermischt und geschürt - auch viel in Europa und in Deutschland. Das bedeutet wieder eine Gefahr, die den Juden auf der ganzen Welt zu Recht Sorgen macht. Dieser Antisemitismus ist ein schreckliches Erbe von 2000 Jahren Verfolgung. Das ist durch den Zweiten Weltkrieg den Juden und mir wieder klar geworden. Die Tatsache, wie diese Bürde geschichtlich auf den Menschen lag und sie dadurch litten und sie damit fertig wurden, ist mir erst durch die Schrecken der Nazizeit klar geworden. So ist es für mich, aber es ist schwer zu verallgemeinern.

Glauben Sie, dass sich die Beziehung zwischen deutschen und jüdischen Mitbürgern normalisieren kann, ohne ein Verblassen des Gedenkens an den Holocaust?

Normalisierung ist hier das falsche Wort: Das Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland war nie normal. Selbst in der Zeit vor Hitler war es immer so, dass nichtjüdische Deutsche deutsche Juden immer als besonderes betrachtet haben. Das Verhältnis war immer vorsichtig und leicht angespannt. Meine Eltern und Großeltern waren sich sehr bewusst, dass sie als Juden in Deutschland lebten. Das gesellschaftliche Leben fand doch eher mit Glaubensgenossen statt. In Amerika dagegen ist man Jude, ebenso wie man italienischer oder sonstiger Abstammung ist. Es ist eben ein Einwanderungsland, man ist einfach Amerikaner. Für Deutschland müsste die Frage also besser lauten: Wird je die Zeit kommen, wo ein deutscher Nichtjude einen deutschen Juden hundertprozentig als Menschen betrachtet, und sich gar nicht bewusst ist oder es gar nicht wichtig findet, ob er auch ein Jude ist, ein Christ oder was auch immer? Das wird noch lange dauern, und das Nazimorden ist sicher eine große Schwierigkeit darin.