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Erst krank, dann arm

André Moeller1. Oktober 2004

In Deutschland steigen immer mehr Menschen aus der gesetzlichen Krankenversicherung aus. Damit riskieren sie im Fall einer Erkrankung den privaten Bankrott. In den europäischen Nachbarländern kennt man das Problem nicht.

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Als Privatvergnügen unbezahlbar: Medizinische VersorgungBild: Bilderbox

Die Möglichkeit, sich aus der Krankenversicherung zu verabschieden, und damit Monat für Monat mehrere 100 Euro zu sparen, mag für manche verlockend sein. Besonders Selbstständige und Kleinunternehmer in finanziell schwieriger Situation machen davon zunehmend Gebrauch. Das geht aus einer Mitteilung des Bundesgesundheitsministeriums hervor. Danach ist seit 1995 die Zahl der Selbstständigen, die weder in der gesetzlichen, noch in der privaten Krankenversicherung versichert sind, von 6000 auf 31.000 gestiegen. Diese Zahlen entsprechen dem bundesweiten Trend. In Deutschland verzichten inzwischen 188.000 Menschen auf jeglichen Krankenversicherungsschutz. Im Jahr 1995 waren das noch 105.000 Bürger.

Versicherungspflicht nicht für alle Bürger

Das Sozialgesetzbuch regelt, wer am System der gesetzlichen Krankenversicherung teilnimmt. Im Wesentlichen sind Arbeiter und Angestellte in einem Beschäftigungsverhältnis und deren Familienangehörige versicherungspflichtig. Unter bestimmten Voraussetzungen gilt die Versicherungspflicht auch für Studierende, Praktikanten und Auszubildende. "Die Versicherungspflicht nach dem Sozialgesetzbuch erstreckt sich jedoch nicht auf alle Bürger", wie der Kölner Gesundheitsökonom Professor Karl Lauterbach für DW-WORLD.DE erläutert.

Selbständige unterliegen in der Regel nicht der Versicherungspflicht. Sie haben unabhängig von ihrem Einkommen die Wahl, ob sie sich als so genannte freiwillig Versicherte in der gesetzlichen Versicherung versichern, in die private Krankenversicherung wechseln oder auf die Krankenversicherung völlig verzichten. Auch Angestellte können unter bestimmten Bedingungen die gesetzliche Krankenversicherung verlassen. Das ist dann der Fall, wenn ihr Einkommen die Versicherungspflichtgrenze von zurzeit 3862 Euro pro Monat überschreitet.

Nur in Deutschland keine flächendeckende Versicherung

Die Versuchung, sich gar nicht gegen Krankheit zu versichern, ist in Deutschland groß. "Die Möglichkeit, sich dem Solidarsystem der Krankenversicherung völlig zu entziehen, gibt es in anderen EU-Staaten nicht", stellt Lauterbach fest. "Lediglich in den Niederlanden ist es noch möglich, sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen. Allerdings besteht dann die Pflicht, sich privat zu versichern."

Zahlen der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) aus dem Jahr 2001 belegen, dass die nationalen Gesundheitssysteme in allen damaligen Mitgliedstaaten eine flächendeckende Gesundheitsversorgung garantieren, während in Deutschland nur 90 Prozent aller Bürger durch das gesetzliche Gesundheitssystem versichert sind. Der Anteil der nicht Versicherten an den übrigen zehn Prozent wächst offenbar ständig. Lauterbach sieht darin ein doppeltes Risiko: "Einerseits werden der Solidargemeinschaft die Finanzierungsbeiträge entzogen, und zum anderen sind die Kosten von Krankheit inzwischen so hoch, dass niemand sie alleine tragen kann." Insofern sind auch Top-Verdiener betroffen, wenn sie sich weder gesetzlich noch privat versichern.

Krankheit ist kein Privatvergnügen

Was es bedeuten kann, die Risiken von Krankheit zu privatisieren, zeigt das Beispiel der USA. 120 Millionen US-Bürger sind gar nicht oder nur unzureichend gegen Krankheit versichert; das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 40 Prozent. Davon haben 44 Millionen überhaupt keinen Versicherungsschutz. Die übrigen sind unterversichert. Das bedeutet in der Regel, dass eine Privatversicherung abgeschlossen wurde, in der bestimmte Körperteile oder Risiken nicht versichert sind.

"Viele US-Bürger können sich einen risikoadäquaten Versicherungsschutz nicht leisten, und versichern daher Körperteile nicht mit, an denen sie bereits erkrankt sind", analysiert Lauterbach. Eine weitere Fallgruppe seien junge, gesunde US-Amerikaner in der Phase der Firmen- oder auch Familiengründung. "Sie sehen sich aus Kostengründen oft dazu gezwungen auf den Versicherungsschutz ganz zu verzichten. Das führt im Krankheitsfall zum Verlust des Unternehmens."

Auf US-Bürger, die durch eine kostenintensive Erkrankung ohne Versicherungsschutz in den Ruin getrieben worden sind, wartet das im Jahr 1965 von Gewerkschaften und Bürgerbewegungen erkämpfte Gesundheitssystem Medicaid. Dabei handelt es sich um ein Wohlfahrtsprogramm, das bereits seit den siebziger Jahren mehrfach gekürzt wurde, und heute nur noch eine lückenhafte Basisversorgung, zum Beispiel ohne Zahnersatz, leistet.