Französische Revolution einmal anders
28. Oktober 2004Den Franzosen wird seit 1789 nachgesagt, sie seien leidenschaftliche Anhänger des "bouleversement", des Umsturzes bestehender Verhältnisse. Jetzt planen sie erneut eine Revolution - dieses Mal eine bildungspolitische. Eine Expertenkommission hat unter dem Vorsitz von Claude Thélot, Richter am Rechnungshof, Vorschläge zur "Zukunft der Schule" erarbeitet. Sie sollen zum Jahreswechsel 2004/2005 von Bildungsminister François Fillon in ein Gesetzesvorhaben gegossen werden und ab dem Schuljahr 2006/2007 in Kraft treten.
Bildung für alle
Der Titel des Berichts "Pour la réussite de tous les élèves" ("Für den Erfolg aller Schüler") ist dabei ebenso ambitioniert wie richtungweisend: "Die Reformen sollen allen Schülern nutzen - und nicht nur Teilen von ihnen", erklärt Tom Schuller, Mitglied der Thélot-Kommission, im Gespräch mit DW-WORLD.
Das wahrhaft Revolutionäre an diesem Bericht sei jedoch weder sein Inhalt noch sein Titel, sondern der Weg seines Zustandekommens, betont Schuller. Der Brite leitet das Zentrum für Forschung und Innovation im Unterrichtswesen (Centre pour la Recherche et l'Innovation dans l'Enseignement - CERI) bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Paris. Den Beratungen der Thélot-Kommission gingen 26.000 landesweite Diskussionsveranstaltungen voraus. 1,5 Millionen Franzosen tauschten sich im Winter 2003/2004 über das Thema Bildung aus.
Deutsche Bildungsdebatte nur in Fachzirkeln
Während Frankreich, ganz ohne PISA-Schock, sein Bildungswesen unter Beteiligung der Betroffenen reformiert, dümpelt in Deutschland, trotz PISA-Schock, die öffentliche Bildungsdebatte vor sich hin. Nur in Fachzirkeln wird auf hohem Niveau diskutiert. "Hier dominiert nach wie vor das Top-Down-Prinzip: In Planungsgruppen werden Reformkonzepte erarbeitet und erst anschließend mit der Basis besprochen", so Olaf Köller, Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und designierter Leiter des neu gegründeten Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen.
Der Weg ist das Ziel
OECD-Experte Tom Schuller empfiehlt der deutschen Regierung denn auch, beim Thema Bildung einen ähnlich öffentlichkeitswirksamen Weg wie den französischen zu beschreiten. "Für die Akzeptanz zukünftiger Schulreformmaßnahmen in Deutschland wäre das sinnvoll", sekundiert Köller. Allerdings sei er keineswegs optimistisch, "dass sich hierzulande die Schuladministration 'das Heft aus der Hand nehmen' lässt".
Das deutsche System bewegt sich doch
Aber: "Das deutsche System ist womöglich moderner, als man denkt", schlägt Bildungsexperte Köller eine Bresche für das hiesige Schulwesen. Während der Thélot-Bericht eine generelle Absenkung des schulpflichtigen Alters auf fünf Jahre vorsieht, können deutsche Eltern bereits heute ihre fünfjährigen Kinder in die Schule schicken - wenn sie denn schulreif sind. Köller sieht in dieser Flexibilität des deutschen Systems seine eigentliche Stärke. Mit dem Ganztagsschulprojekt habe Bildungsministerin Edelgard Buhlmahn zudem "zwei wichtige Veränderungen auf den Weg gebracht: die Anwesenheit der Lehrkräfte am Nachmittag und dass sie damit den Schülern und Eltern verstärkt zur Verfügung stehen".
Die Geburt des neuen französischen Lehrers
Eine ähnliche "Neudefinition des Lehrerberufs" ist erklärtes Ziel der Thélot-Kommission: Der Lehrer soll sich von seiner rein Wissen vermittelnden Funktion verabschieden, mehr Zeit in der Schule verbringen und auch für die Erziehung des Schülers verantwortlich sein. Dazu soll er zukünftig - für viele französische Pädagogen unerhört - den regelmäßigen Kontakt zu den Eltern suchen. All das geht selbstverständlich nicht ohne längere Arbeitszeiten, die der Kommissionsbericht ausdrücklich vorsieht.
Lehrergewerkschaften nicht begeistert
In einem Land, das sich der Einführung der 35-Stunden-Woche rühmt, sind die geplanten Arbeitszeitverlängerungen für die Gewerkschaften ein rotes Tuch. Das Ziel der Bemühungen könne nicht sein, die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Schulsystem in Frage zu stellen, stellte die Confédération Générale du Travail (CGT) im Vorfeld der Gespräche mit Bildungsminister François Fillon klar. Die Worte des OECD-Experten Schullers, der Thélot-Bericht sei kein vollständiges "bouleversement" des Lehrerberufs, werden sie wohl kaum beruhigen.