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Nostalgie nach Autorität

30. Oktober 2009

Vor 20 Jahren gab Ungarn die Richtung für den Wandel vor. Die Kommunistische Partei schaffte sich selbst ab, es wurden freie Wahlen angesetzt und ausländische Investoren eingeladen. Was haben die Reformen bewirkt?

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Feier auf dem Kossuth-Platz in Budapest am 23. Oktober 1989 (Foto: dpa)
Feier auf dem Kossuth-Platz in Budapest am 23. Oktober 1989Bild: picture-alliance / dpa

Am 23. Oktober 1989 verkündete Ungarns Präsident Matyas Szürös die Gründung einer neuen Republik. "Wenn ich darüber nachdenke, sind seitdem einige Dinge besser geworden", sagt Viktor Bori. Er ist jemand, den man wohl den typischen Ungarn nennen würde. Mitte Vierzig, drei Kinder. Er lebt auf dem Land und arbeitet in der Stadt. "Ein Beispiel ist die Bahn", sagt er. "Ich pendle jeden Tag aus einer kleinen Stadt rund 65 Kilometer nach Budapest. In den letzten Jahren haben sie alle Haltestellen entlang der Strecke renoviert. Also spare ich jetzt eine Viertel Stunde pro Strecke jeden Tag – das ist eine Menge."

Die Bahnstrecken, die Straßen, die Straßenbeleuchtung, das Abwassersystem – Ungarn sieht sicherlich heute viel moderner aus, als vor 20 Jahren. Aber was ist mit der Demokratie, wegen der die Menschen 1989 auf die Straße gegangen sind?

Niederschlagung von Protesten

Ferenc Gyurcsány kratzt sich am Kopf (Foto: AP)
War Ministerpräsident Gyurcsány zu ehrlich?Bild: AP

September 2006: Soeben war die Sozialistische Partei wiedergewählt worden, aber Ministerpräsident Ferenc Gyurcsáni klang trotzdem nicht glücklich: "18 Monate haben wir so getan, als würden wir regieren – und es hat mich fast umgebracht", sagte er damals. "Stattdessen haben wir gelogen, morgens, mittags und abends. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Entweder ändern wir das – dann bin ich euer Mann. Oder wir machen weiter wie zuvor – aber ohne mich."

Die Ansprache des Ministerpräsidenten löste eine Welle der Empörung in der Bevölkerung aus. Wenn jemand zugebe, dass er gelogen habe, um eine Wahl zu gewinnen, dann müsse er die moralische Verantwortung dafür übernehmen und zurücktreten, forderten die Kritiker. Eben nicht, entgegnete der Ministerpräsident. Er sei der erste Politiker, der die Wahrheit gesagt habe. Nach fünf Wochen öffentlicher Proteste griff die Polizei dann hart durch. Am 23. Oktober 2006, dem 50. Jahrestag der Revolution gegen die Sowjetische Herrschaft, eröffnete sie im Zentrum von Budapest das Feuer und schoss eine mit Gummigeschossen eine Gewehrsalve nach der anderen auf eine friedliche Demonstration. Mehr als 100 Menschen wurden verhaftet, einige verloren ihr Augenlicht.

Geerbter staatlicher Sozialismus

Straßenkämpfe in Ungarn 2006 (Foto: AP)
Straßenkämpfe in Ungarn 2006Bild: AP

Die Straßenproteste endeten mit dem Rücktritt des Polizeichefs und des Justizministers, sowie einer Reihe von Gerichtsverhandlungen gegen die Polizei, die zum Großteil von den Klägern gewonnen wurden. Außerdem wurde eine unabhängige Polizei-Beschwerdestelle eingerichtet. "Unsere Politiker haben nicht gelernt, dass Demokratie ein sehr komplexes System ist", sagt Elemér Hankiss, ein bekannter Soziologe. "Wenn du Politiker in einer Demokratie bist, kannst du eben nicht einfach machen, was du willst. Selbst die besten Ideen müssen von allen Abgeordneten diskutiert, kontrolliert und akzeptiert werden." In Ungarn habe man noch das Gefühl des staatlichen Sozialismus geerbt. "Das ist eine Mischung aus leninistischer Arroganz, also das wir die Elite sind, die alles weiß. Und außerdem wissen wir wie wir dich glücklich machen und wenn du das nicht willst, dann bringen wir dich um."

Das Ende einer Ära

abgetragene Levis Jeans (Foto: dpa)
Levis hielt Kiskunhalas am LebenBild: picture-alliance / dpa

1989 gab es zwei große Momente in Kiskunhalas, in der Mitte Ungarns. Erst verließ das russische Panzerregiment nach 30 Jahren die Stadt. Dann wurde eine Fabrik für Levis Jeans in der Stadt gebaut. Im Juni dieses Jahres wurde sie geschlossen. "Hier in der Stadt werden sie keine neuen Jobs finden, das liegt an der Weltwirtschaftskrise", sagt Zoltan. Er ist Lokaljournalist. "In diesem Industriezweig gibt es hier in der Region nur ganz wenige neue Jobs – in unsere Stadt gerade mal 38, das ist nicht genug für 700 Arbeitslose."

Die Schließung der Jeansfabrik war das Ende einer Ära – und das Ende der Hoffnungen, die es vor 20 Jahren gab. Nur wenige bezweifeln, dass Fortschritte gemacht worden sind, dass die Menschen auf eine Art freier sind. Aber die Freiheit hat bei den Menschen nicht den erwünschen Effekt gebracht. "Die politischen Strukturen waren schwächer als wir dachten, weil wir Anti-Kommunismus und Nationalismus für die Ausübung politischer Demokratie gehalten haben", sagt Charles Gati, ein ungarisch-amerikanischer Schriftsteller. "Und das wirkliche Problem ist, dass es eine Art Nostalgie nach Autorität gibt – nicht nach Kommunismus, nicht nach Diktatur, sondern nach Bevormundung."

Autor: Nick Thorpe
Redaktion: Andreas Ziemons