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Als Glocken zu Geschützen wurden

21. September 2018

Am 21. September läuteten in ganz Europa Kirchenglocken zur Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkriegs. Im Krieg wurden viele Glocken zu Geschützen umgeschmolzen. Der Schmerz darüber einte die Menschen.

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Deutschland Ablieferung von Glocken in Rostock 1917
Abgehangen: Glockensammelstelle in Rostock, 1917Bild: Gemeinfrei

Der Dekan hatte resigniert. Eine Zeitlang hatte er noch versucht, die Anordnung zu umgehen, ihre Folgen möglichst klein zu halten. Doch dann, Ende Juli 1917, musste er erkennen, dass seine Mühen vergeblich waren: Die Glocken seiner Pfarrgemeinde im rheinland-pfälzischen Kusel würden in Kürze vom Turm geholt. Dann gingen sie in ein Eisenwerk, würden dort eingeschmolzen und in Kanonen verwandelt.

"So werden sie denn in Zukunft eine andere Sprache reden als seither", erläuterte Dekan Karl Munzinger in seiner Predigt vom 22. Juli 1917 der Gemeinde den Verlust der Glocken. "Es geht uns gegen jegliches Gefühl, dass sie, die wie nichts anderes den Frieden predigen und wunde Herzen heilen sollten, in grausigem Morden Leiber zerreißen und nie vernarbende Wunden schlagen sollen."

März 1917: Krieg den Glocken

Glocken zu Kriegswaffen: Die Anordnung der deutschen Reichsregierung vom März 1917 bedrückte viele Bürger, keineswegs nur Christen. Die für die Kriegsindustrie unverzichtbaren Metallvorräte waren knapp geworden. So mussten nun die Glocken herhalten.

In Erinnerung daran läuteten europaweit am 21. September die Glocken. Sie erinnerten aber auch an die Freude und Erleichterung, die sich mit dem Ende des Krieges am 11. November 1918 verband. Zugleich sollte das Läuten bewusst machen, wie sehr der Krieg auch den Zusammenbruch einer symbolischen Ordnung bedeutete.

Die Dicke Bertha
Krieg als Metallschlacht: die "dicke Bertha", das mächtigste Geschütz des deutschen Militärs, Szene vom August 1914

"Die schmerzlichsten Gefühle"

Glocken abzuhängen, einzuschmelzen und in Geschütze zu verwandeln: Das, sagt Pfarrer Rüdiger Penczek von der evangelischen Kirchengemeinde Wesseling bei Köln, habe den Sinn dieser Kircheninstrumente in sein Gegenteil verkehrt. Glocken, so Penczek, hätten von alters her den Rhythmus der Menschen bestimmt. "Kirchenglocken waren und sind Taktgeber für das tägliche Leben. Wenn die große Totenglocke läutet, weiß man, dass jemand zu Grabe getragen wird. Die Glocken am Samstagabend, immer zehn Minuten vor 19 Uhr, läuten den Sonntag ein: Jetzt kann man die Arbeit endlich ruhen lassen. Das ist die spirituelle Dimension von Glocken. All dies hörte im Laufe des Ersten Weltkriegs auf."

Entsprechende Beklemmung verursachte der Erlass vom März 1917. "Die Durchführung der Glockenabnahme hat, wie dies ja nur zu begreiflich ist, bei Geistlichkeit und Bevölkerung die schmerzlichsten Gefühle hervor gerufen", heißt es im Speyerer Konsistoriums; "leider ist aber auch teilweise eine recht bedenkliche Trübung der Stimmung, ja sogar Erregung und Erbitterung eingetreten."

"Friede sei ihr erst Geläute"

Anders konnte es kaum sein. Noch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sind Glocken Bestandteil des europäischen Alltags. Noch vielmehr waren sie es vor hundert Jahren. "Noch dauern wird's in späten Tagen / Und rühren vieler Menschen Ohr / Und wird mit dem Betrübten klagen / Und stimmen zu der Andacht Chor." So beschrieb Friedrich Schiller 1799 die Rolle der Glocke im Öffentlichen Leben. Ihr Klang bringt die Menschen zusammen, bindet die Einzelnen zum Chor. "Sie bewegt sich, schwebt, / Freude dieser Stadt bedeute, / Friede sei ihr erst Geläute", heißt es in Schillers Gedicht weiter.

Kölner Dom Dicke Pitter Glocke
"Friede sei ihr erst´Geläut". Glocken verleihen dem Alltag Bedeutung. Hier die Petersglocke im Kölner DomBild: Imago/Schöning

"Chor" und "Friede" - beide wurden im Ersten Weltkrieg brutal gestört. An die Stelle des Chores trat das Korps, der Frieden mündete ins Gefecht, der Alltag kippte in einen permanenten Ausnahmezustand. Und die Glocken schwiegen. Den Zusammenbruch der Ordnung und das Schweigen der Glocken kenne man auch im Kirchenjahr, sagt Pfarrer Penczek. "Am Karfreitag wird noch zum Gottesdienst geläutet, aber es wird keine Vaterunser-Glocke mehr geläutet. Die Glocken schweigen dann bis Ostersonntag. Und dieses Schweigen der Glocken macht deutlich: Es ist etwas aus den Fugen geraten."

Welt aus den Fugen

Freilich sahen damals nicht alle Geistlichen die Verwandlung der Glocken in Waffen mit Entsetzen. Die Autoren aus dem Speyerer Konsistorium etwa begrüßten das Einschmelzen der Glocken – und kritisieren den Widerstand, der sich in vielen Kirchengemeinden dagegen regte. Verantwortlich für den Unmut trage ganz wesentlich die Presse. Sie verbreite über die Notwendigkeit, die Glocken einzuschmelzen "falsche Ansichten". Dergleichen möge doch bitte unterbleiben. Umso mehr seien darum die Gemeinden gefordert: "Von größtem Werte ist es, wenn in dieser hochwichtigen Sache die Zivil- und Militärbehörden durch die Herrn Geistlichen unterstützt würden, deren vaterländischer Sinn sich im Laufe des Krieges so oft bewährt hat."

Rund 44 Prozent der deutschen Kirchenglocken wurden im Ersten Weltkrieg eingeschmolzen. In Großbritannien rief das Läuten am 21. September eine weitere Zahl in Erinnerung: Dort starben 1400 zum Kriegsdienst eingezogenen Glöckner. Sie fehlten, als am 11. November 1918 die erlösende Nachricht vom Waffenstillstand verkündet wurde. Entsprechend dünn fiel auf der Insel an jenem Tag das Geläut aus. 1400 freiwillige Laienglöckner erinnerten bei der diesjährigen Aktion an diesen Notstand.

Österreich Glockenfriedhof im Innsbrucker Stadtteil Wilten, um 1917
Nachschub für die Schlacht: ein so genannter "Glockenfriedhof", hier eine Aufnahme aus Innsbruck, 1917Bild: Gemeinfrei

Vielfalt der Erinnerung

So hat die Erinnerung in jedem Land eine spezifische Färbung, verbunden mit dem jeweiligen Kriegsgeschick. Die Deutschen empfanden den 11. November auch als Tag ihrer Niederlage. Die Polen hingegen, deren Land gut eineinviertel Jahrhunderte zuvor von den Großmächten aufgeteilt und annektiert worden war, feierten an jenem Tag die nationale Auferstehung. Andere Nationen, etwa die Tschechen und Slowaken oder auch die Kroaten, Serben und Slowenen, feierten ihre Befreiung aus der Herrschaft der großen Imperien wie des Habsburger, oder des Osmanischen Reiches.

Erleichterung, Freude und Trauer: In den Klang der am 11. November 1918 läutenden Glocken flossen viele Empfindungen ein, unterschiedlich von Land zu Land. Auch an diese Vielfalt der Empfindungen habe man erinnern wollen, sagt Pfarrer Rüdiger Penczek. "Denn jeder trägt seine eigene Geschichte mit, jedes Land hat seine eigenen Wunden. Auch das ist Ausdruck der europäischen Vielfalt."

Gedenkstätte Hartmannswillerkopf

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika