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Was Wörter über den Zeitgeist verraten

Torsten Landsberg
10. Januar 2019

51 neue Begriffe hat das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in sein Neologismen-Wörterbuch aufgenommen. Darunter "twerken", "Cheatday" oder "Freundschaft Plus". Warum, erklärt Direktor Henning Lobin.

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Neue Wörter | twerken
Bild: picture-alliance/dpa/M. Murat

Deutsche Welle: Herr Lobin, das Institut für Deutsche Sprache hat neue Begriffe ins Neologismen-Wörterbuch übernommen. Welche Voraussetzungen muss ein Wort dafür erfüllen?

Henning Lobin: Wir greifen keine Wörter willkürlich heraus, sondern analysieren die reale Verwendung in öffentlichen Publikationen statistisch, um herauszufinden, wie oft sie vorkommen. Dafür ist wichtig, dass sie über einen längeren Zeitraum von bis zu drei Jahren hinweg über eine gleichmäßige Verwendung verfügen.

Es sind also Begriffe, die man subjektiv zum allgemeinen Sprachgebrauch zählt?

Henning Lobin, Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache
Henning Lobin, Direktor des Instituts für Deutsche Sprache Bild: T. W. Klein

So kann man es sagen. Wir haben nur ein methodisches Problem: Wir können den alltäglichen, mündlichen Sprachgebrauch nicht erfassen. Deshalb verlegen wir uns darauf, aktuelle Publikationen zu betrachten, was die Perspektive auf journalistische Texte begrenzt.

Lässt sich von Begriffen wie "Freundschaft Plus" oder "Alternative Fakten" eine gesellschaftliche Tendenz ableiten, hin zu Vereinfachung, Zuspitzung, Oberflächlichkeit?

Das ist schwer zu sagen, weil viele Begriffe sehr kreativ gebildet sind und ihren Ursprung in verschiedenen Bereichen haben. "Freundschaft Plus" bezeichnet eine Beziehung zwischen Menschen leicht humoristisch, aber nicht abwertend. Andere Begriffe sind eher technischer Natur, die "Walk-in-Dusche" stammt aus der Fachsprache.

Ist die Nutzung der entsprechenden Begriffe eine Frage von Alters- oder Zielgruppen?

In der Tat: Das aus dem Tanzstil "Twerking" abgeleitete Verb "twerken" wird sicherlich von Leuten genutzt, die mit dem Tanzstil vertraut sind. Bei der Dusche haben wir das Phänomen, dass aus dem kommerziellen Bereich Begriffe in die allgemeine Verwendung schwappen, das ist immer ein Zeichen für eine gute Imagekampagne.

Manche der neuen Neologismen könnten auch aus der Jugendsprache stammen. Wo liegt der Unterschied zwischen dem Wörterbuch Ihres Instituts und der Kür zum Jugendwort des Jahres?

Die zum Wort oder Jugendwort gekürten Begriffe müssen nicht zwangsläufig Neologismen sein. Manche sind nur im jeweiligen Jahr und eher selten irgendwo aufgetaucht. Wir achten auf eine breitere Verwendung und haben keine Jury, sondern Lexikografinnen und Lexikografen, die zu den Begriffen einen richtigen Lexikoneintrag verfassen, mit Grammatik und Wortgeschichte.

Unter den aktuellen Ergänzungen sind Wörter wie "Cheatday", "Zoodles", "Clickbait" und "Bingewatching". Ist die deutsche Sprache besonders anfällig für Anglizismen?

Momentan ist sie sicherlich anfällig dafür, so wie sie im 18. und 19. Jahrhundert sehr stark für Gallizismen, also Übernahmen aus der französischen Sprache, anfällig war und im 16. Jahrhundert für Latinismen - in teilweise weit höherem Maße als heute mit den Anglizismen. Aber in der Tat bringen viele Begriffe zum Ausdruck, dass das, was sie bezeichnen, im englischsprachigen Raum erstmals erfasst, erfunden oder bezeichnet worden ist. Es gibt auch urdeutsche Wörter unter den Neologismen: "Filterblase" ist aus rein deutschen Bestandteilen gebildet worden.

Die deutsche Sprache ist also nicht in Gefahr?

Nein, glücklicherweise nicht. Die Zahl der Sprecherinnen und Sprecher der deutschen Sprache liegt weiterhin bei etwa 100 Millionen Menschen, weitere 100 Millionen lernen das Deutsche, diese Zahl ist in den vergangenen Jahr sogar angestiegen. Von der globalisierten Wirtschaft oder der Werbeindustrie lassen sich die Menschen ihre Muttersprache nicht verbieten.

In Frankreich wacht man per Gesetz über Alternativen zu Anglizismen. Ist das ein sinnvolles Vorbild?

Selbst im Französischen, wo die Académie française darüber wacht, dass es französische Entsprechungen für viele Fremdwörter gibt, wird im privaten und geschäftlichen Gespräch in hohem Maß mit Anglizismen gearbeitet. Wir sind da nicht die Ausnahme, sondern Symptom einer allgemeinen Erscheinung. In Frankreich werden auch immer wieder Begriffe gebildet, die kurios sind: Für "Alternative Fakten" gibt es dort die Kurzform "infox" für information und intoxication, also vergiftete Kommunikation. Man muss sehen, ob sich das durchsetzt oder im Alltag die wörtliche Übersetzung verwendet wird.

Wobei die Erläuterung des Begriffs treffender ist als die reine Übersetzung "Alternative Fakten", die bei uns gebräuchlich und genau genommen ein Widerspruch ist.

Das stimmt, von der Bildung her ist "infox" ein gutes und raffiniert gebildetes Wort, die Frage ist nur immer: Wie setzt es sich durch? Da spielt der mediale Sprachgebrauch eine Rolle und insbesondere die Tradition der Sprachpflege in einem Land. Da unterscheiden wir uns extrem vom Französischen. Das ist entstanden nach der staatlichen Einheit, um die stark divergierenden Dialekte zu vereinheitlichen. In Deutschland war es umgekehrt, das Standarddeutsch entstand ohne staatliche Einheit. Das schlägt sich bis heute im Umgang mit Sprache nieder.

Henning Lobin ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und Professor für Linguistik an der Universität Mannheim. Neologismus bezeichnet eine sprachliche Neuprägung, die in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist.

Jedes Jahr wird das Neologismen-Wörterbuch umfangreicher. 2018 sind 51 neue Begriffe hinzugekommen, sodass es seit 1991 auf insgesamt 1900 Wörter angewachsen ist. Die Wissenschaftler gehen dabei mit Hilfe des Computers durch riesige Textmengen aus Zeitungen und Zeitschriften.

Das Gespräch führte Torsten Landsberg.