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PolitikAsien

Aufklärung von Todesschüssen im Iran gefordert

Shabnam von Hein
17. November 2020

Ein Jahr nach den November-Protesten im Iran werden die Familien der getöteten Demonstranten immer noch bedroht. Amnesty International wirkt unterdessen auf eine Verurteilung Teherans wegen der Schießbefehle hin.

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Pouya Bachtiari und ihre Mutter Nahid Shirpisheh
Pouya Bachtiari und ihre Mutter Nahid ShirpishehBild: ugc

Vor einem Jahr wurde ihr Sohn durch einen gezielten Kopfschuss getötet. Pouya Bachtiari war 27 Jahre alt, "jung und voller Hoffnung, wie viele andere junge Demonstranten", sagt seine Mutter Nahid Shirpishe im Gespräch mit der DW. Am 16. November 2019 hatten sie und ihr Sohn sich einer friedlichen Demonstration in der Stadt Karadsch, rund 40 Kilometer westlich der Hauptstadt Teheran, angeschlossen.

Es gab damals landesweite Proteste. Zwei Tage zuvor hatte die Regierung wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise die Subventionen für Benzin gekürzt. Wohl wissend, dass der als "Mutter aller Inflationen" geltende höhere Benzinpreis alles im Land teurer machen würde und dass Proteste die natürliche Folge sein würden. Vor vielen Tankstellen standen Polizisten. Es ging aber nicht nur um Benzin. Die Wut der Bürger war viel größer.

"Krieg ausländischer Mächte"

Pouya hatte kurz vor seinem Tod ein Video aufgenommen. Darin ermutigte er seine Landesleute aufzustehen und dem Regime ein für allemal zu zeigen, dass sie diese Situation nicht mehr ertragen wollen. Die Erhöhung des Benzinpreises hatte das Fass der allgemeinen Unzufriedenheit über Missmanagement, Korruption und fehlende persönliche und gesellschaftliche Freiheiten zum Überlaufen gebracht. Es wurden die schwersten Unruhen in der Geschichte der Islamischen Republik.

"Es war ein Wunder, dass wir die Proteste beenden konnten", gab damals Salar Abnoush, ein Kommandeur der paramilitärischen Organisation Basidsch, in einer Rede in der west-iranischen Stadt Hemdan zu. Die Basidsch-Miliz ist für die Unterdrückung von Unruhen zuständig. Abnoush beschrieb die Proteste als einen "umfassenden Krieg ausländischer Mächte" gegen die Islamische Republik. Die Behörden reden bis heute von einem vom Ausland angezettelten "Komplott" und machen die USA, Israel und Saudi-Arabien dafür verantwortlich. Was die Menschen im Iran sagen, wollen sie nicht hören.

Von der Weltgemeinschaft enttäuscht

Das Video von Pouya gehörte zu den letzten Videos aus dem Iran, die an jenem Tag und den fünf folgenden Tagen im Internet verbreitet wurden. Denn am 16. November, einem Samstagnachmittag, schränkte die Regierung den Internetzugang im Land massiv ein, um die Verbreitung von Bildern und Videos von den Protesten zu verhindern. Dennoch erfuhren noch am selben Abend Journalisten außerhalb des Irans, dass Pouya Bakhtiari erschossen worden war.

"Die Sicherheitsbehörden hatten ein Blutbad angerichtet. Eine Woche lang wurden Demonstrationen überall im Lande niedergeschossen. Außerhalb des Landes interessierte sich kaum einer für uns. Die Weltgemeinschaft hat weggeschaut und die Menschenrechtsorganisationen haben geschwiegen", sagt Nahid Shirpishe. Sie und der Vater von Pouya wollten nicht schweigen.

Trotz massiven Drucks der Sicherheitsbehörden gaben sie Journalistin Interviews und berichteten über andere Familien, die ebenfalls Familienmitglieder verloren hatten. Die Eltern von Pouya Bachtiari wurden wiederholt von Sicherheitsbehörden bedroht und festgenommen. Später änderten diese ihre Taktik und boten den Bachtiaris und anderen Familien von getöteten Demonstranten Geld an, um sie zum Schweigen zu bringen. Wer das ablehnte und sich an die Öffentlichkeit wandte, wie die Eltern von Pouya, wird bis heute von den Behörden drangsaliert.

Amnesty International will Iran anklagen lassen

"Die Familien der getöteten Demonstranten werden systematisch unterdrückt und eingeschüchtert", weiß Raha Bahreini, Iran-Expertin bei Amnesty International, zu berichten. Die Menschenrechtsorganisation hat eine neue Internet-Seite freigeschaltet, auf der von ihr gesammelte Informationen und Dokumentationen über die Unterdrückung der November-Proteste im Iran abrufbar sind.

Laut Amnesty wurden vor einem Jahr innerhalb von fünf Tagen mindesten 304 Demonstranten getötet, meistens durch Schüsse auf den Oberkörper oder auf den Kopf. Mindestens 23 der Getöteten waren unter 18 Jahren alt.

Mindestens 23 der Getöteten waren unter 18 Jahren alt. Eine von ihnen war die 14-jährige Nikta Esfandani
Mindestens 23 der Getöteten waren unter 18 Jahren alt, eine von ihnen war die 14-jährige Nikta Esfandani Bild: Hadse24

"Die Internetblockade hat die Berichterstattung über die Proteste im Iran stark eingeschränkt. Wir haben aber nicht weggeschaut", sagt Raha Bahreini und fügt hinzu: "In den letzten zwölf Monaten haben wir zahlreiche Interviews geführt und Beweise, zum Beispiel Totenscheine, gesammelt. Die zeigen, dass die Sicherheitskräfte beauftragt waren, gezielt zu töten (Schüsse auf Kopf und Oberkörper zeigen, dass die Sicherheitskräfte nicht zur Auflösung der Menge geschossen haben - Anm.d.Red.). Wir werden uns an den UN-Menschenrechtsrat und seine Mitgliedstaaten wenden. Sie können den Iran zur Verantwortung ziehen."

Wie viele Demonstranten tatsächlich getötet wurden und wer den Schießbefehl auf unbewaffnete Demonstranten erteilt hat, das sind Fragen, die von der iranischen Regierung bis heute nicht beantwortet wurden.

"Traurige Dinge"

Einzig der iranische Innenminister Abdulresa Rahmani Fasli äußerte sich: "Traurige Dinge" seien geschehen, sagte er im Juni 2020. "Rund 40 oder 45 Menschen, das heißt rund 20 Prozent der Getöteten, wurden von nicht vorschriftsmäßigen Waffen getroffen und sind gestorben." Hochgerechnet geht die Regierung damit von 200 bis 250 Toten aus.

Nach den Protesten hatte die Regierung vollständige Aufklärung versprochen. Auf die warten die Eltern von Pouya Bachtiari noch immer.