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Bildergeschichten: Der Kriegsverbrecher im Wohnzimmer

Tillmann Bendikowski23. Dezember 2013

Wir stellen jede Woche ein Bild vor und erzählen seine Geschichte. Diesmal gehen wir zurück in das Jahr 1966: Albert Speer beginnt seine zweite Karriere.

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Albert Speer
Bild: Getty Images

Wieder zuhause: Albert Speer, wegen Kriegsverbrechens und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Nürnberg zu 20 Jahren Haft verurteilt, hat seine Strafe abgesessen und ist ins heimatliche Heidelberg zurückgekehrt. Was nach Ruhestand eines Geläuterten aussehen mag, markiert in Wirklichkeit den Beginn der zweiten Karriere eines Unbelehrbaren: Hitlers damaliger Lieblingsarchitekt Albert Speer. Dieser Mann, der monumentale NS-Bauten entwarf und als Rüstungsminister für den massenhaften Arbeitseinsatz und damit auch für die Ermordung von KZ-Häftlingen mitverantwortlich war, wird in den nächsten Jahren viel Geld damit verdienen, sich selbst als Verführten darzustellen. Seine autobiographischen Schriften "Erinnerungen" (1969) und "Spanndauer Tagebücher" (1975) werden zu Bestsellern.

Hätten die Richter in Nürnberg nur ansatzweise über die Informationen verfügt, die Historikern inzwischen vorliegen, Speer wäre fraglos mit anderen Hauptkriegsverbrechern gehenkt worden. So allerdings macht er sich nach seiner Haft rasch daran, die Deutungshoheit nicht nur über seine Rolle in der NS-Zeit zu erobern: Er wird zum wichtigsten Gewährsmann des Journalisten Joachim C. Fest, der eine vielbeachtete Hitler-Biographie schreibt. Albert Speer versorgt ihn mit Information aus vermeintlich erster Hand über den "Führer", der als der allein verantwortliche, als der dämonische Verführer erscheint, dem andere – auch NS-Größen wie er selbst – nur zugearbeitet haben.

Albert Speer gelingt die Selbstinszenierung als unpolitischer Fachmann, der den Verführungskünsten des Diktators sozusagen hilflos anheimgefallen ist. Der Mehrheit der Westdeutschen kommt die Interpretation sehr gelegen – auch sie werden somit schließlich entlastet: Wenn selbst Albert Speer ein "Verführter" war, dann gilt das für die Mehrheit des Volk doch erst recht, oder?

Albert Speer gehört bald wieder dazu – als gern gesehener Gast. Diese böse Überraschung müssen Marcel Reich-Ranicki und seine Ehefrau Tosia machen, als sie im Herbst 1973 vom Verleger Wolf Jobst Siedler in dessen Villa in Berlin eingeladen werden. Es wird das Erscheinen der Hitler-Biographie von Joachim Fest gefeiert. Das Ehepaar, selbst nur mit knapper Not der Ermordung durch die Nazis entgangen, sieht hier mit großem Schreck, wie man sich fast ehrerbietig um den Ehrengast des Abends bemüht: Albert Speer, einen "der schrecklichsten Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands", wie der Literaturkritiker später in seiner Autobiographie notiert. Noch während Reich-Ranicki überlegt, wie er sich verhalten soll, geleitet Siedler das vor Schreck erstarrte Ehepaar zu Speer, der sie geradezu herzlich begrüßt und einen Smalltalk beginnt – als sei nichts gewesen. Ist etwas gewesen? Die Geschichtsklitterung des großen und kleinen Albert Speers im Nachkriegsdeutschland war erfolgreich.