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Corona-Impfpflicht für alle?

8. Dezember 2021

Die Regierung schließt eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona nicht aus. Juristisch und ethisch wäre das wohl legitim. Im Gespräch mit der DW rät ein Medizin-Historiker jedoch davon ab.

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Deutschland Corona-Pandemie Impfkampagne | Frankfurt am Main
Bild: picture alliance/dpa

Und sie kommt doch. Monatelang hatten Politiker fast aller Parteien versprochen: Eine Pflichtimpfung kommt auf keinen Fall. Doch eine der ersten Amtshandlungen der neuen Koalitionsregierung ist die Einführung einer - zunächst berufsbezogenen - Impfpflicht. Bei 15 Millionen Nichtgeimpften und immer noch weit fast 70000 Corona-Neuinfektionen in Deutschland täglich, war es wohl höchste Zeit zum Handeln.

Schon am Dienstag haben Sozialdemokraten, Grüne und Freie Demokraten mit ihrer Regierungsmehrheit im Bundestag ein entsprechendes Gesetz auf den Weg gebracht und darüber debattiert. Die Befürworter aus den Reihen der neuen Regierungskoalition sprachen von einer "Güterabwägung" in Corona-Krisenzeiten, so etwa Sabine Dittmar von der SPD. Alice Weidel, Fraktionsvorsitzende der rechtspopulistischen AfD, bezeichnete die Pläne als "Zwangsmaßnahmen" und "epochalen Wortbruch".

Bis Mitte März soll sich das Personal in Einrichtungen für besonders gefährdete Menschen gegen Corona impfen lassen. Beschlossen werden soll im Eiltempo - bis Freitag - eine Impfpflicht für Personal in Pflegeheimen und Kliniken.

Malte Thießen I Leiter des LWL-Institut
Professor Malte Thießen leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und forscht unter anderem über Gesundheitsgeschichte und ImpfenBild: LWL/Kathrin Nolte

Eine berufsbezogene Impfpflicht sei in der Geschichte Deutschlands nicht neu, erläutert der Medizinhistoriker Malte Thießen im Interview mit der DW: "Die Impfpflicht für Mediziner gab es schon im 19. Jahrhundert." Und auch heute bestehe eine Impfpflicht für Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr, die man "möglichst gegen alles impft, was sich irgendwie impfen lässt".

Kampf um "Weltbilder" - Impfen ist politisch

Die Debatte ums Impfen war immer "hoch politisch", sagt der Medizinhistoriker. "Beim Impfen ging es nie nur um den Piks, sondern immer auch um Weltbilder."

Impfen als Politikum - weil es mit dem eigenen Körper, dem sozialen Umfeld und dem Staat zu tun hat. Die hitzigen Debatten sind nicht neu. "Schon vor 200 Jahren wurde um das Impfen gestritten und politisch intensiv diskutiert", erklärt Thießen.

Infografik COVID-19 Impfquote weltweit Ausgewählte Länder und vollgeimpft DE
Deutschland liegt, was die Impfquote angeht, international nicht vorne

Dass die Deutschen im internationalen Vergleich bis heute impfkritisch sind, hat nach Ansicht von Thießen auch mit der Geschichte des Immunisierens seit dem 19. Jahrhundert zu tun. Viele Argumente und Stereotype von damals finden sich bis heute wieder.
Im Jahre 1874 wurde das sogenannte Reichsimpfgesetz erlassen, weil in ganz Europa immer mehr Menschen an den Pocken erkrankten und allein in Preußen Zehntausende starben. Die Pockenimpfung wurde Pflicht. Unumstritten war das nicht. In dieser Zeit kommt die sogenannte Lebensreform-Bewegung in Mode. Die schreibt sich die Optimierung des Körpers durch natürliche Mittel auf die Fahnen, etwa Sonne oder spezielle Diäten. Erste Impfgegner-Organisationen wurden schon 1869 in Leipzig und Stuttgart gegründet, fünf Jahre vor dem Reichsimpfgesetz. Der Reichsverband zur Bekämpfung der Impfpflicht kam bald auf 300.000 Mitglieder.

Pocken Behandlung
Im 19. Jahrhundert rafften die Pocken Zehntausende hin. Bis die Impfung kamBild: picture-alliance/Mary Evans Picture Library

Die Geschichte des Impfens

Impfungen seien für die Bewegung "Teufelszeug" gewesen, "etwas Künstliches, Chemisches, was dem Körper eingespritzt wird", sagt Malte Thießen. "Und das ist auch eine Erklärung dafür, dass sich die massive Impfkritik sogar ins alternative Milieu der Bundesrepublik bis heute fortsetzt."

Kommt die allgemeine Impfpflicht?

Die berufsbezogene Impfpflicht ist für die neue Koalitionsregierung aber wohl nur ein Anfang. Bundeskanzler Scholz (SPD) setzt sich schon jetzt für eine allgemeine Impfpflicht bis spätestens Anfang März ein. "Mein Vorschlag ist ja, dass der Zeitpunkt, bis zu dem dann jeder und jede sich impfen lassen, auch nicht allzu fern liegt", sagte Scholz kürzlich in einem Interview des Fernsehsenders Bild-TV.

Dabei gehe es für jeden Abgeordneten um eine "Gewissensfrage".

 

Bei Fragen von moralisch-ethischer Tragweite müssen die Abgeordneten des Bundestages nicht der Meinung ihrer Partei folgen - was sie sonst oft tun -, sondern sind vollkommen frei in ihrer Entscheidung.

Bislang gibt es eine allgemeine Corona-Impfpflicht nur in den autoritär regierten zentralasiatischen Staaten Tadschikistan und Turkmenistan. Österreich will sie im Februar einführen und bei Nichteinhaltung Geldstrafen von bis zu 3600 Euro verhängen. China hat sie bis heute nicht.

Die Impfpflicht: "ein stumpfes Schwert"

Medizinhistoriker Thießen zeigt sich überrascht davon, dass die Debatte um die Impfpflicht so rasant an Tempo aufgenommen hat. Vielleicht liege das daran, dass viele Deutsche mittlerweile eine allgemeine Impfpflicht befürworteten. In der jüngsten Meinungsumfrage des ARD-DeutschlandTrend sprachen sich 71 Prozent für eine allgemeine Impfpflicht aus. Thießen rät aber eher davon ab. Eine Impfpflicht oder gar ein Impfzwang sei "ein rigider Eingriff in die Privatsphäre", der sich nur schwer rechtfertigen lasse. Andererseits hätte eine Impfpflicht den Vorteil, dass der Druck "noch einmal deutlich erhöht wird" und der "Staat seinerseits verpflichtet wäre, genug Impfungen anzubieten". Dennoch rät der Wissenschaftler eher zu mehr "Partizipation, Transparenz, Aufklärung und niederschwelligen Angeboten", also zum Beispiel Impfangebote in Einkaufzentren oder mobilen Impfstellen.

Die allgemeine Impfpflicht gegen die Pocken, die in der Bundesrepublik bis 1976 galt, sah sogar einen Impfzwang vor, also die Verabreichung der Impfung unter Gewaltanwendung. Aber den Ministerialbeamten, sagt Thießen, "wurde schnell klar, dass das extrem kontraproduktiv ist" und zu massiven Protesten führt.

Deutschland | Demonstration gegen Corona-Politik in Nürnberg
Angst vor einer Radikalisierung - Anti-Impfprotest in NürnbergBild: Daniel Karmann/dpa/picture alliance

Auch viele Landesinnenminister und Verfassungsschützer warnen vor einer weiteren Eskalation, sollte eine allgemeine Impfpflicht kommen. "Ich befürchte in der Tat, dass die Impfpflicht die Proteste weiter anheizen könnte", sagte Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Der Innenminister von Sachsen, Roland Wöllner (CDU), sagte gegenüber dem Sender RTL: "Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Protest sich zunehmend mit Hass und Gewalt auflädt."

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigt sich ebenfalls besorgt. Der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, bezeichnete die Impfpflicht als "absolut letztes Mittel". Er appellierte am Dienstag an die Länder, eine Impfpflicht nur anzuwenden, "wenn alle anderen machbaren Optionen zur Verbesserung der Impfaktivität ausgeschöpft wurden". Das Vertrauen der Öffentlichkeit spiele dabei eine zentrale Rolle.

Entscheiden, so sagt der Medizinhistoriker Malte Thießen, müsse letztlich die Politik. Dass der Fraktionszwang im Parlament aufgehoben werde, jeder Abgeordnete frei über eine Impfpflicht entscheiden könne, sei gut. In seinen Gesprächen mit Politikern höre er aber immer häufiger von gewissen "Bauchschmerzen", wenn es um eine allgemeine Impfpflicht in Deutschland gehe.

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online