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Politik

Die neuen Freiheiten von Bagdad

Judit Neurink
23. Juni 2019

Die wieder gewonnene Freiheit in der irakischen Hauptstadt Bagdad nach der Verdrängung des "Islamischen Staates" zeigt Wirkung: Die Gesellschaft öffnet sich wieder - davon profitieren besonders Frauen.

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Bagdad Graffiti  Versöhnung Schiiten Christen
Die Zeichen stehen auf Versöhnung: Im "neuen" Badgad werden Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Religionen wieder normalBild: DW/J. Neurink

Langsam kehrt die Normalität zurück in Bagdad. Seit die Terrormiliz "Islamischer Staat" aus dem Irak verdrängt wurde, hat sich die Acht-Millionen-Einwohner-Stadt stark verändert.

Die meisten der Schutzmauern, die in den letzten zehn Jahren errichtet wurden, um öffentliche und private Gebäude zu sichern, wurden abgerissen. Stattdessen finden sich dort jetzt Parks und Grünflächen. Die sogenannte "Grüne Zone" wurde erst kürzlich für den gesamten Verkehr geöffnet. Darin befinden sich das Parlament, die Ministerien und Botschaften, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit von Zäunen, Mauern und Kontrollpunkten gesichert wurden.

Wasserpfeifen und alkoholfreie Cocktails

Im Zuge der Veränderungen wurde in Bagdad auch das erste Frauencafé eröffnet. Dort können sich Frauen ohne Begleitung von Männern treffen und ihre Kopftücher und die lange Abaya ablegen, die auf den Straßen so verbreitet sind. Das ist meist das erste, was junge Frauen beim Betreten des Cafés La Femme tun.

"Väter wollen nicht, dass ihre Töchter in Cafés gehen, in denen Männer Wasserpfeifen rauchen", sagt La Femme-Besitzerin Adra Adel-Abid, 47, und beschreibt die Situation an vielen öffentlichen Orten im Irak. Auch sie bietet Wasserpfeifen an, aber ihre werden von einer Frau zubereitet. Ihre Tochter Mays, 20, serviert derweil alkoholfreie Champagnercocktails, Softgetränke und Snacks.

Bagdad Adra Adel-Abid
Adra Adel-Abid und ihre Tochter Mays betreiben Bagdads erstes FrauencaféBild: DW/J. Neurink

Auch wenn das Café eine Wache beschäftigen muss, wie es an öffentlichen Orten im Irak üblich ist, finden Frauen ihren Weg hierher, sagt Adel-Abid. "Einige Männer sind wütend, dass sie nicht willkommen sind; andere behaupten, wir würden heimlich Alkohol und Drogen verkaufen." Aber bisher haben sich noch keine Männer in dieses weibliche Heiligtum gewagt - obwohl sich das Café in einem Hochhaus zusammen mit anderen Restaurants, einer Sporthalle für Männer und nur einem Aufzug befindet.

Vor fünf Jahren wäre das Café unmöglich gewesen

Der Kundenkreis von Adel-Abid umfasst vor allem Frauen aus der Mittel- und Oberschicht. Für ihre jungen Kundinnen organisiert sie reine Frauenfeste zu Geburtstagen, Verlobungen und Abschlussfeiern. Die ältere Generation trinkt lieber Kaffee und hört den alten irakischen Sängern zu, die auf La Femmes Musikanlage bevorzugt gespielt werden.

Vor fünf Jahren hätte sie das Café nicht öffnen können, sagt Adel-Abid. "Die Leute hatten Angst. Jetzt gibt es mehr Offenheit." Das bedeutet, dass Frauen jetzt Unternehmen führen können. Frauen wie Adel-Abid. Neben La Femme gründete sie auch ein Projekt, das Reste von Restaurants sammelt, um einige der 190.000 Armen und Vertriebenen der Stadt zu versorgen. Aus Geldmangel musste sie das Projekt vorübergehend einstellen. Derzeit ist sie auf der Suche nach wohlhabenden Bagdadis, die sie unterstützen.

Veränderung kultureller Normen

Adel-Abid ist nicht die einzige Unternehmerin in Bagdad. Da der "Islamische Staat" verdrängt und die gegenwärtige politische Stabilität zu spüren ist, fordern irakische Frauen immer mehr ihren Anteil am öffentlichen Raum der Stadt. In Mansour, dem Stadtviertel, in dem sich La Femme befindet, sind die meisten Cafés und Restaurants heute gemischt, und auch Frauen rauchen dort Wasserpfeife.

Der frische Wind des Wandels hat auch das Straßenbild verändert. Frauen kleiden sich wieder bunter, anstatt sich hinter schwarzen Schleiern zu verstecken. Die Entwicklung geht so weit, dass junge Frauen sich immer seltener ein Kopftuch umbinden; wie Adel-Abids Tochter Mays tragen sie lieber Jeans - und dazu kein Tuch.

Das Gleiche gilt für Merry al-Khafaji, die kürzlich Mustafa al-Ani geheiratet hat. Gemeinsam sitzen die beiden Mittzwanziger bei einer Wasserpfeife in einem beliebten Bagdader Garten, sie trägt ihr dunkles Haar offen und ein grünes T-Shirt mit Jeans.

Die Heirat der beiden ist ein weiteres Zeichen für die sich verändernde Atmosphäre in Bagdad. Die Tatsache, dass er Sunnit und sie Schiitin ist, hätte noch vor ein paar Jahren zu großen Problemen geführt. Aber seit die Iraker sich zusammengeschlossen haben, um den "Islamischen Staat" auszuschalten, haben gemischte Ehen im Land ein Comeback erlebt; unter den Jugendlichen in Bagdad sind sie sogar zum neuen Standard geworden.

Bagdad Mustafa al-Ani and Merry al-Khafaji
Mustafa al-Ani and Merry al-Khafaji haben sich gefunden: bei der Arbeit, nicht über ihre ElternBild: DW/J. Neurink

Vor dem Fall Saddams im Jahr 2003 war es normal, dass Iraker frei zwischen Religionen und Gruppen heiraten konnten. Aber das neue Regime teilte das Land nach Glaubensrichtungen auf. Und als die schiitische Mehrheit an die Macht kam, führte das zu einem Bürgerkrieg zwischen den religiösen Gruppen, zum Aufstieg des radikalen Islam und schließlich zum "Islamischen Staat". Infolgedessen bevorzugten die Eltern, dass ihre Kinder innerhalb ihrer eigenen Gruppe heiraten. "Aber nach dem Sieg über den IS entschieden viele Iraker, dass sie diese schwarze Ära hinter sich lassen und in die Zeit vor der Teilung zurückkehren wollten", sagt das junge Paar.

Traditionell wählen Eltern die Partner ihrer Kinder, aber Merry al-Khafaji und Mustafa al-Ani lernten sich in dem Telekommunikationsunternehmen kennen, für das sie beide arbeiten. Mittlerweile entwickeln sich immer mehr Liebesbeziehungen bei der Arbeit, im Studium oder in Workshops.

Veränderung durch Social Media

Auch soziale Medien haben eine starke Wirkung. Sie eröffnen jungen Menschen einen neuen Weg, neue Freunde in der konservativen irakischen Gesellschaft zu finden, erzählen die beiden. Und da die meisten Menschen ihre Familiennamen - der oft die Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe offenbart - in den sozialen Medien nicht verwenden, wissen die Menschen eigentlich nicht, welcher Religion ihre neuen Freunde angehören. Bis sie es herausfinden, ist die Liebe dann vielleicht schon aufgeblüht.

Die sozialen Medien hätten junge Menschen zudem ermutigt, kritischer zu sein, betont Al-Ani. "Sowohl sunnitische als auch schiitische Jugendliche haben die Rolle der religiösen politischen Parteien und der Religion in unserer Gesellschaft kritisiert." Aber auch wenn Mischehen in Bagdad "jetzt ganz normal sind", wie er sagt, sind sie in den konservativeren und abgegrenzten Regionen außerhalb der Hauptstadt weniger verbreitet.

Das Ehe-System selbst ist ein weiteres Hindernis. Ein Ehepaar muss wählen, unter welcher religiösen Ausprägung es seine Ehe registrieren lassen möchte, da Sunniten und Schiiten jeweils ihr eigenes Erbrecht und ihre eigenen Scheidungsgesetze haben. Obwohl die schiitischen Scheidungsgesetze für Frauen etwas besser sind, hat sich das Paar für sunnitische Gesetze entschieden. "Die Frau vom Gericht hat davon abgeraten", sagt Al-Khafaji, "aber es ist mir wirklich egal." Sie hat genug von der Teilung.

Bagdad  Hanaa Edwar
Hanaa Edwar, Leiterin der Amal AssociationBild: DW/J. Neurink

Hanaa Edwar, eine angesehene Aktivistin, die die Amal Association im Irak leitet, hält die verbesserte Sicherheitslage nach dem Sieg über den "Islamischen Staat" für den Haupttreiber des Wandels. "Es hat eine psychologische Wirkung, dass all diese Wände entfernt werden. Junge Frauen sagen sich, dass es jetzt in Ordnung ist, dass sie wieder normal leben können. Sie lassen das Kopftuch fallen und spielen eine aktivere Rolle in der Gesellschaft. Und ihre Familien sind damit einverstanden."

Frauen erobern den öffentlichen Raum zurück

Eltern verstehen, dass ihre Kinder mehr Freiheit brauchen, sagt sie, was dazu geführt hat, dass das Publikum in Cafés, aber auch die Workshops, die ihre Organisation durchführt, immer gemischter werden.

"Eltern erlauben ihren Töchtern, jetzt allein nach Basra oder Erbil zu reisen." Früher wären sie immer von ihrem Vater oder einem Bruder begleitet worden. "Während des Kampfes gegen den IS sahen wir junge Männer und Frauen, die sich zusammenschlossen, um Zivilisten zu unterstützen", erzählt sie. "Heute spielen Frauen wieder in Theatern, ohne dass dem große Beachtung geschenkt würde. Sie sprechen in der Öffentlichkeit - zum Beispiel gegen Zwangsverheiratungen. Sie brechen die Mauern ein und beginnen sogar, die Stammestraditionen zu erschüttern."