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Politik

Droht Russlands Theatern Zensur?

Juri Rescheto
8. August 2021

Wer sind die "Scheißkerle"? Die Kontroverse über eine mutmaßliche Beleidigung von Kriegsveteranen in einem Theaterstück hat in der Moskauer Szene Angst vor Zensur ausgelöst. Aus Moskau Juri Rescheto.

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Moskau Sovremennik Theater Lija Achedschakowa
Großmutter Nuria löste mit ihrem Monolog im Theaterstück "Erstes Brot" im Moskauer Sowremennik-Theater eine Kontroverse über Kriegsveteranen ausBild: Sergei Karpukhin/TASS/picture alliance

"Scheißkerle!", ruft Oma Nuria auf einem Friedhof. Sie spricht das Schimpfwort voller Verzweiflung aus. In ihrer Verzweiflung schwingt die Frage mit: Ihr habt gekämpft und gekämpft, und was habt ihr davon?

Wen die alte Frau wirklich als "Scheißkerle" beschimpft, die Soldaten oder diejenigen, die die Soldaten in den Krieg schicken, bleibt unklar. Klar hingegen ist die Trauer über den Verlust ihres Ehemannes, ein Veteran des sowjetisch-afghanischen Kriegs, der auf dem Friedhof begraben ist.

Und nun zieht schon wieder ein Familienmitglied in den Krieg, diesmal der Enkel. Nuria fürchtet, dass auch er nicht lebend zurückkommen könnte.   

Aufruhr nach der Premiere

Die Szene auf dem Friedhof stammt aus dem Theaterstück "Erstes Brot”, geschrieben von einem jungen russischen Dramatiker, und inszeniert von einem jungen polnischen Regisseur im renommierten Moskauer Theater Sowremennik, zu deutsch "Zeitgenosse".

Das Theater selbst gilt seit seiner Gründung in den 1960er Jahren als Russlands bekannteste Experimentierbühne. Die Premiere vom "Erstes Brot" fand im Juli statt. Danach wollte sich Sowremennik in die sommerliche Ruhe verabschieden. Doch statt Ruhe folgten nach der Premiere recht unruhige Tage für das Ensemble.

Russland | Parade zum Tag des Sieges
Putin mit russischen Kriegsveteranen bei der Parade zum Tag des Sieges gegen Nazi-Deutschland am 9. Mai Bild: Mikhail Metzel/Sputnik/REUTERS

Mitglieder eines Verein Namens "Offiziere Russlands" fanden keinen Gefallen an der Aufführung. Aus Nurias Schimpfwörtern lasen sie eine Beleidigung von Kriegsveteranen heraus. Und die Zuneigung von Nurias Enkel gegenüber einem anderen Mann wurde als Propaganda für Homosexualität gewertet.

Veteranen beschweren sich

In Russland sind dies aktuell alles strafbare Handlungen. Die "Offiziere" und ein weiterer Veteranenverein beschwerten sich bei der Moskauer Stadtverwaltung und dem Bürgermeister persönlich über das Theaterstück und schrieben an das staatliche Untersuchungskommitee und die Staatsanwaltschaft.  

Schnell wurde die Geschichte zum Selbstläufer. Die linksnationalistische Pro-Kreml-Organisation "Serp" (South East Radical Block) ging an die Öffentlichkeit und bezeichnete den Regisseur und das Stück als "talentlos". Ihre Anhänger wollten sogar eine Vorstellung im Sowremennik-Theater stören, was ihnen allerdings nicht gelang.

Der Veteranen-Verein forderte die Absetzung des Intendanten. Als die Geschichte zu einem echten Medienereignis wurde, sah sich die Sowremennik-Leitung gezwungen, zu reagieren und strich strittige Passagen aus dem Monolog der Großmutter.

Damit nicht genug. Auch der Beirat des Russischen Kulturministeriums schaltete sich in die Kontroverse ein und forderte die Einberufung einer Extra-Kommission, die alle Theater Moskaus auf die Einhaltung der so genannten "Strategie der Nationalen Sicherheit" überprüfen soll.

Das Strategierpapier war erst vor kurzem von Präsident Wladimir Putin unterzeichnet worden. Die Passage über die "Bewahrung von seelisch-moralischen und patriotischen Werten” hoben die Beschwerdeführer besonders hervor.

Verrückt nach Theater 

Das Russische Kulturministerium distanzierte sich zwar von den Forderungen des Beirates, der nur eine beratende Funktion hat, aber die Drohung war ausgesprochen und damit auch die Frage, wie viel Zensur es auf Russlands Bühnen tatsächlich gibt. 

Russland Moskau | Unterstützer der Kulturszene für Film und Theater vor dem Gerichtsgebäude: Urteilssprechung Kirill Serebrennikow
Bei der Urteilsverkündung gegen Filmemacher und Theaterdirektor Kirill Serebrennikow im Juni 2020 versammelten sich tausende Unterstützer vor dem Gericht in MoskauBild: picture-alliance/dpa/Sputnik/I. Pitalev

In einer Stadt wie Moskau mit über 250 Theatern ist dies eine hochpolitische Frage. Denn Theater sind bei der Bevölkerung nicht nur außerordentlich beliebt, sie gelten auch als Freiräume für wichtige gesellschaftliche Debatten.

"Die gegenwärtige Beziehung zwischen Staat und Theater sieht zwar manchmal dramatisch aus und das Ausmaß an Theatralik in diesen Konflikten ist ziemlich groß", sagt Alexander Rodionow, Direktor des Moskauer Theater.Doc. Ziel solcher Konflikte sei es, "die Selbstzensur in der Theaterpraxis zu fördern.”

Das kleine, aber bekannte Theater in Moskau erregt immer wieder Aufmerksamkeit mit der Inszenierung unbequemer Themen. Rodionow betont im Interview mit der Deutschen Welle, dass es laut Verfassung in Russland keine Zensur gibt. Das sei "wichtig, wertvoll und fair für die russische Kultur”. Die Konflikte seien meist lauter und furchterregender in Worten als in Taten.

Selbstzensur als Schutz?

Theaterkritikerin Marina Dawydowa hingegen befürchtet, dass solche Vorfälle künftig öfter vorkommen. "Dass sich die russische Justiz mittlerweile um ein Theaterstück kümmert, in dem kein einziges Zeichen für eine Straftat zu finden ist, zeigt, dass sich die Gesellschaft radikalisiert", erklärt sie im DW-Gespräch. 

Der ehemalige Leiter der Oper in Nowosibirsk, Theatermanager Boris Mezdritsch, hat dies am eigenen Leib erfahren. Nachdem die Russisch-Orthodoxe Kirche gegen seine Inszenierung von Richard Wagners "Tannhäuser" vor Gericht zog, weil diese angeblich religiöse Gefühle von Gläubigen beleidige, verlor er 2015 seinen Job als Theaterdirektor. 

Mezdritsch glaubt, dass es in Zukunft mehr so genannte Bürgergruppen geben wird, "deren Gefühle plötzlich verletzt werden könnten." Um die Situation jedes Mal nicht eskalieren zu lassen, wünscht er sich eine moderierende Rolle des Staates und außergerichtliche Einigungen.

Der Theatermanager selbst ist mittlerweile wieder gut im Geschäft und sieht den Skandal um die "Tannhäuser"-Inszenierung nicht nur negativ. Im Gegenteil: "Ich bekam eine riesige Reputationsunterstützung", sagt Mezdritsch, "das half mir innerlich."

Im Theater Sowremennik herrscht derzeit wieder Ruhe. Das Ensemble ist in den Sommerferien. Im neuen Spielplan findet sich "Erstes Brot" erst einmal nicht.

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Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga