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Einer für alle, alle für einen

17. Juni 2021

Genossenschaftliche Lieferdienste wie Khora in Berlin wollen die prekäre Arbeit der Fahrradkuriere sicherer und sozialer machen. Wie gut kann das gelingen?

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Fahrradkurier zwischen Autos und Bussen
Zwischen Autos und Bussen: Viele Fahrer setzen sich oftmals großen Risiken aus - ohne gut abgesichert zu sein Bild: DW

Es war ein Montag, als der Fahrradkurier Mattia per Mail von seinem damaligen Auftraggeber Deliveroo erfuhr, dass es ab Samstag mit dem Job vorbei sei. Der Essenslieferdienst stand schon vorher wegen schlechter Arbeitsbedingungen in der Kritik. Im August 2019 stellte er seinen Dienst innerhalb weniger Tage in Deutschland ein, um - so die Firmen-Begründung - das Wachstum in anderen Ländern zu beschleunigen. Lange Kündigungsfristen gab es für die Fahrer nicht - sie hatten als Selbstständige für den Lieferservice gearbeitet.  

"So kurzfristig war das damals", erinnert sich der 33-jährige Italiener, der seit vielen Jahren in Berlin lebt, im Gespräch mit der DW. "Es hat uns die Augen geöffnet, wie nachhaltig die Arbeitsstelle ist - oder eben auch nicht ist. Mehrere hundert Fahrer waren auf einmal arbeitslos."

Mehr Sicherheit, mehr Spaß

Mattia, der gerne per Vornamen genannt werden möchte, hatte noch einen Zweitjob und fiel deshalb finanziell nicht ins Bodenlose. "Aber für andere war es schlimm." Aus der finanziellen Not der Fahrer wird jedoch eine neue Idee geboren: Warum sich nicht selbst organisieren und gemeinschaftlich für einander einstehen?

Deutschland | Lieferdienst-Kooperative Khora | Fahrradkurier Mattia
Fahrradkurier Mattia von der Lieferdienst-Kooperative KhoraBild: Marvin Systermans

Die Fahrer-Kooperative Khora - damals noch unter anderem Namen - entsteht, die Fahrer werden gleichberechtigte Anteilseigner, das eingenommene Geld wird über die Genossenschaft verteilt. Über die Genossenschaft werden sie auch in der Kranken-, Arbeits- und Rentenversicherung sozial versichert. Es geht nicht um Gewinn, sondern darum, dass sich die Mitglieder besser stellen. Seit März 2020 ist Mattia dabei.

"Man hat die Genossenschaft gewählt, weil die Selbstbestimmung für die Fahrer wichtig ist" erzählt Mattia. "In der Fahrradkurierszene sind Leute, die autoritäre Beziehungen im Arbeitsleben nicht mögen; Leute, die nur ungern in einem Büro mit einem Chef arbeiten würden."

Eine Jahrhunderte alte Idee 

Die Idee hinter den Kooperativen ist nicht neu, schon seit Jahrhunderten existieren Genossenschaften in Deutschland. Laut dem deutschen Genossenschaftsverband ist mittlerweile jeder vierte Deutsche Mitglied, bekannt sind vor allem die großen Genossenschaften wie Raiffeisen- oder Volksbanken oder auch Wohnungsgenossenschaften. Doch auch außerhalb Deutschlands ist das Modell beliebt: Weltweit gibt es rund 800 Millionen Mitglieder.

Fahrradkurier des Lieferdienstes Deliveroo
Das schnelle Aus bei Deliveroo war für einige Fahrer "schlimm", sagt Fahrradkurier MattiaBild: picture-alliance/dpa

Nun soll auch die sogenannte Gig Economy dank kleiner Genossenschaften sozial verträglicher gemacht werden. Die Gig Economy steht für einen Arbeitsmarkt, bei dem kleine Aufträge  - wie ein schneller Auftritt, also Gig - kurzfristig vergeben werden. Dazu zählen Grafikdesigner genauso wie Menschen, die für wenige Euros Fotos von einer Speisekarte machen und ins Internet stellen. Auch die Lieferfahrer reihen sich dort ein. "Das war ein neues Prekariat, dass da geschaffen wurde - schlecht bezahlte Berufe, die mit einem relativ hohen Risiko behaftet sind", sagt Wirtschafts-Professor Christian Hopp von der Fachhochschule Bern. 

Prof. Dr. Christian Hopp von der Berner Fachhochschule
Prof. Dr. Christian Hopp von der Berner FachhochschuleBild: RWTH Aachen/Peter Winandy

Auch in anderen europäischen Ländern schließen sich deshalb Lieferfahrer zusammen, gründen Kooperativen. Eine Hilfestellung bieten dabei Gemeinschafts-Unternehmen wie Smart, das seine Mitglieder in der Genossenschaft anstellt und mittlerweile in acht europäischen Ländern tätig ist.

Selbständigkeit macht nicht alle glücklich

Auch Khora steht unter den Fittichen von Smart. "Wir sichern die Gehälter der Mitglieder ab, das heißt es gibt eine Zahlungsgarantie auf die Aufträge und die Mitglieder erhalten Zugang zur Sozialversicherung, zur Arbeitslosen, Kranken- und Rentenversicherung", sagt Co-Geschäftsführerin Alicja Möltner der DW. Mehrere hundert Mitglieder hat Smart bereits in Deutschland.

Schweres schleppen – Kampf im Lieferservice

"Wir richten uns an diejenigen, die als Soloselbstständige großen Risiken ausgesetzt sind, weil sie eben keinerlei soziale Absicherung erfahren", sagt Möltner. "Die Selbstständigkeit in Deutschland ist ein zweischneidiges Schwert."

Es gebe Menschen, die sich bewusst für die Selbstständigkeit entscheiden und ein unternehmerischer Charakter sind. "Für die ist die Selbstständigkeit genau die Freiheit, die sie brauchen. Aber es gibt auch viele, die frei arbeiten - aber nicht freiwillig in der Selbstständigkeit gelandet sind. Aber es gibt auch viele, die frei arbeiten – aber nicht freiwillig in der Selbstständigkeit gelandet sind. Zum Beispiel Grafiker, die nicht angestellt werden, sondern nur projektbezogen dazu gebucht werden. Das bringt viele Unsicherheiten mit sich." Von einer Mitgliedschaft in der Genossenschaft profitieren nicht nur die Gig Worker, sondern auch die Gesellschaft, ist Möltner überzeugt. Denn die müsse die Soloselbstständigen zum Beispiel bei Altersarmut nicht mehr so stark auffangen.

Ein Modell der Zukunft?

Ob Genossenschaften dieser Art auch in Zukunft gut bestehen können, daran hat Wirtschafts-Professor Christian Hopp von der Fachhochschule Bern allerdings Zweifel. "Man sieht, dass es ab einer gewissen Größe zu groß wird und die Solidargemeinschaft nicht mehr hält." Wenn zum Beispiel ein Fahrer richtig erfolgreich ist und die anderen Fahrer in dem Viertel aber nicht, dann sind dennoch alle gleichermaßen beteiligt. "Das führt bei einigen der größeren Kooperativen dazu, dass die Solidargemeinschaft in Frage gestellt wird."

Außerdem müsse das Geschäftsmodell von Kooperativen wie Khora noch nachhaltiger werden, glaubt er. "Für die Klientel wäre es gut, Restaurants mit rein zunehmen, die sie bei den anderen Ketten nicht haben." Dann konkurriere man nicht nur über den Preis, sondern auch über die Produkte, die angeboten werden und sich von den Mitbewerbern absetzen.

Schlemmen im Lockdown

"Die Frage ist: Bin ich bereit, weil die Mitarbeiter dort Teilhaber sind, mehr zu bezahlen? Oder muss ich nicht auf der anderen Seite auch sagen: Ich biete über die Auswahl der Restaurants auch einen Mehrwert an. Dass man zum Beispiel auch das neue vegane Restaurant zum Teil der Kooperative macht", sagt Hopp.

Trotz aller Bedenken: Für Mattia ist die Genossenschaft auf jeden Fall jetzt schon ein Gewinn. Er arbeitet nicht nur als Fahrer, sondern auch in der Organisation, der Buchhaltung, im Marketing - und bekommt so ganz andere Einblicke ins Geschäft. "Für mich persönlich ist es interessanter, die Dinge zu verstehen und selbst zu organisieren. Das macht mir am meisten Spaß."

 

Stephanie Höppner Autorin und Redakteurin für Politik und Gesellschaft