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Europa auf der Couch

Astrid Prange14. Juni 2016

Ein Gespenst geht um. Es ist das Gespenst von Zerfall, Zwist und Zynismus. Verabschiedet sich Europa von seinen Werten? Auf dem Global Media Forum wurde der alte Kontinent unter die Lupe genommen.

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GMF 2016: Ammar Abo Bakr
Bild: DW / M. Müller

"Europa befindet sich in seiner bisher größten Krise. Noch nie war der Mangel an Glaubwürdigkeit so offensichtlich, noch nie das Verhalten so beschämend", erklärte Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, auf dem Global Media Forum (GMF) in Bonn. Europas Werte würden jeden Tag im Mittelmeer ertränkt, erklärte die grüne Politikerin bei einer Paineldiskussion vor rund 200 Besuchern.

Während Medienschaffende aus der ganzen Welt in Bonn über Pressefreiheit und Demokratie diskutieren, betreiben Politiker wie Claudia Roth eine schonungslose Analyse der Situation in Europa: Europa habe versagt - bei der Flüchtlingskrise, bei Friedensmissionen und Militäreinsätzen, bei der Armutsbekämpfung und bei der Harmonisierung von Steuergesetzen.

UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi legte den Finger in die offene Wunde Europas. "Mehr als 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht", erklärte Grandi in einer Videobotschaft. "Doch anstatt die Kriege zu verurteilen, verurteilen wir die Menschen, die vor den Kriegen und Konflikten fliehen."

Demokratische Ideale für Idealisten

Krieg und Vertreibung haben die Wahrnehmung Europas verändert - von außen und von innen. Die Verheißung von Demokratie und Wohlstand ist auch in vielen EU-Mitgliedsländern politischer Ernüchterung und politischem Populismus gewichen. Es scheint, als seien sich nicht mehr alle EU-Mitgliedsstaaten ihrer demokratischen Werte sicher.

Mittelmeer Libyen Flüchtlingsboot Rettungsaktion (Foto: Reuters/Marina Militare)
Ein kenterndes Flüchtlingsboot wird vor der libyschen Küste von der italienischen Marine gerettetBild: Reuters/Marina Militare

"Wir haben auch in Europa Probleme mit der Demokratie", bestätigt Jerzy Pomianowski, Direktor des European Endowment for Democracy (EED). Das Brüsseler Institut fördert demokratische Initiativen und Menschenrechtsvorkämpfer in europäischen Anrainerstaaten. Seine Erfahrung: "Nicht nur in der Ukraine sind diejenigen, die Korruption bekämpfen, in der Minderheit. In unserer Gesellschaft befinden sich diejenigen, die an Werte glauben und für sie eintreten, in derselben Lage."

Der polnische Menschenrechtler beklagte gemeinsam mit der grünen Politikerin Claudia Roth die politische Doppelmoral europäischer Politiker. Es sei bezeichnend, dass es innerhalb von nur zwei Monaten gelungen sei, drei Milliarden Euro für den Flüchtlingsdeal mit der Türkei bereitzustellen, so Jerzy Pomianowski. "Im Libanon hingegen sitzen Millionen von Menschen seit fünf Jahren in Flüchtlingslagern fest, und wir haben es immer noch nicht geschafft, 150 Millionen Euro für die Schulbildung von Kindern zu organisieren!"

Global Media Forum Nahles Interview DW (Foto: DW/M. von Heine)
Arbeitsministerin Andrea Nahles appelliert an die GMF-Besucher: Werden Sie nicht zynisch!Bild: DW/M. von Heine

Ohne erhobenen Zeigefinger

Auch Arbeitsministerin Andrea Nahles stimmte in den Chor der Kritiker ein. "Ich stehe hier nicht mit erhobenem Zeigefinger", stellte sie vor den Bloggern aus Kuba, Pakistan und Nigeria im Publikum klar. Auch in Deutschland sei die Pressefreiheit wieder unter Druck geraten, Journalisten würden von rechtsradikalen Parteien und Organisationen bis ins private Leben verfolgt.

Nach Angaben von "Reporter ohne Grenzen" hat sich Deutschland in der Rangliste 2016 um vier Plätze auf Rang 16 verschlechtert. Grund ist die zunehmende Zahl von Anfeindungen, Drohungen und gewalttätigen Übergriffe gegen Journalisten. Negativ wirkten sich auch die Bestrebungen der Regierungen in Ländern wie Polen und Ungarn aus, staatliche und private Medien unter ihren Zugriff zu bringen.

Mehr Europa oder weniger Europa?

Nur der ehemalige slowenische Premierminister Alojz Peterle wehrte sich gegen Schuldzuweisungen. "Wir sollten beim Thema Flüchtlinge nicht darüber sprechen, wie wir mehr Europa umsetzen, sondern wie wir weniger Europa vermeiden", erklärte der EU-Abgeordnete der christlichen Partei Sloweniens pragmatisch. Es könne nur das umgesetzt werden, worauf sich auch wirklich alle Mitgliedsstaaten geeinigt hätten. Peterle: "Ich glaube, dass wir mit weniger Europa mehr Frieden bekommen."

Grünen-Politikerin Claudia Roth hält dies für einen fatalen Irrtum. "Es ist genau diese Entwicklung zu immer weniger Europa, immer mehr Vaterland, immer mehr Nationalstaat, die uns in die Krise treibt", ist sie überzeugt. Weil demokratische Parteien rechtspopulistischen Bewegungen hinterherliefen und Europas Werte in Frage stellten, befände sich die EU in einer fundamentalen Krise. Roth: "Es ist ein Wettlauf der Schäbigkeit."

Claudia Roth (Bild: DW/K. Danetzki)
Claudia Roth: In einem Europa der Grenzzäune und Stacheldrähte will ich nicht lebenBild: DW/K. Danetzki