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"Herkunft ungeklärt"

Sarah Judith Hofmann
25. September 2019

Nach Bern, Bonn und Berlin zeigt nun das Israel Museum in Jerusalem ausgewählte Werke aus dem Gurlitt-Fund, der einst als "Nazi-Schatz" betitelt wurde. Viele der Besucher denken an die eigene jüdische Familiengeschichte.

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Ausstellung Fateful Choices | Art from the Gurlitt Trove in Jerusalem
Bild: Israel Museum Jerusalem/Ofrit Rosenberg

Miri Rosin hat die rechte Hand auf ihr Herz gelegt. Die ältere Dame ist sichtlich bewegt. Sie holt Luft: "Haben Sie das Foto von der Rue de Rivoli gesehen?", fragt sie. "All diese wundervollen Kunstwerke hier und dann dieses Foto. Das macht mich so...", sie ringt nach Worten, "... wütend, traurig. Ich liebe Paris. Sehen Sie, dort kann man den Louvre erkennen. Wie oft war ich schon im Louvre!", schwärmt die Kunstliebhaberin. "Und hier die Rue de Rivoli voller roter Hakenkreuzfahnen."

Das Foto stammt aus der Zeit, in der Paris von den Nationalsozialisten besetzt war. Jene Zeit, in der Hildebrand Gurlitt im Auftrag Adolf Hitlers in Paris Kunst einkaufte – nicht selten zu lächerlich niedrigen Preisen, die in keiner Weise dem Marktwert entsprachen. Sie wurden jüdischen Kunsthändlern oder Sammlern abgepresst, man könnte auch sagen: unter lebensbedrohlichen Umständen gestohlen. Ab 1941 wurden über das nahe Paris gelegene "Sammellager" Drancy mehr als 65.000 Juden in NS-Vernichtungslager deportiert und ermordet.

"Eine traurige Zeit für das jüdische Volk"

All das wissen Besucher des Israel Museums in Jerusalem wie Miri Rosin. Es ist das emotionale Gepäck, mit dem viele Menschen in die Ausstellung "Fateful choices. Art from the Gurlitt Trove" (zu Deutsch: "Schicksalhafte Entscheidungen. Kunst aus dem Gurlitt-Fund") gehen. Nach Ausstellungen in Bern, Bonn und Berlin zeigt nun das Israel Museum in Jerusalem eine Auswahl von Werken aus der Sammlung, die 2012 bei Cornelius Gurlitt, dem Sohn des einstigen Kunsthändlers, gefunden wurde. Unter den rund 100 Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen sind die ganz großen Namen der Kunstgeschichte: Paul Cézanne, Claude Monet, Auguste Rodin, Paul Gauguin, Aristide Maillol, Gustave Courbet, Edvard Munch, Otto Dix, Max Ernst.

Das Gemälde "Zwei Reiter am Strand" von Max Liebermann aus dem Schwabinger Kunstfund (vermutlich bis 1939 Sammlung David Friedmann, Breslau)
Eines der bekannten Gemälde aus dem Schwabinger Kunstfund: "Zwei Reiter am Strand" von Max LiebermannBild: gemeinfrei

Historische Fotos wie jenes von Paris unterm Hakenkreuz finden sich kaum in der Ausstellung. "Es war eine traurige Zeit für das jüdische Volk, und wir müssen nicht ständig daran erinnert werden", sagt die Kuratorin Shlomit Steinberg. "Es steckt ohnehin in unserem Blut, unseren Knochen, in den Armen mancher Menschen hier, in die blaue Nummern tätowiert sind. Wir müssen nicht den Holocaust in diese Ausstellung bringen. Es soll um die Kunst gehen. Sie soll im Fokus stehen."

Doch natürlich geht es in der Ausstellung auch um den Fall und um die Person Hildebrand Gurlitt. Die Ausstellung ist in Themenbereiche gegliedert: Gurlitts Familiengeschichte, "Entartete Kunst" und Gurlitts Zeit als Kunsteinkäufer in Paris. Im Auftrag Adolf Hitlers hatte Gurlitt als "entartet" verfemte Kunst verkauft und damit Devisen für das Dritte Reich eingetrieben. Dann hatte er für Hitlers geplantes "Führermuseum" in Linz Kunstwerke eingekauft, unter anderem in Paris. Der letzte Abschnitt widmet sich seiner Zeit als Museumsdirektor und Sammler in Düsseldorf.

Hildebrand Gurlitt
Hildebrand Gurlitt (Mitte) 1952 in der Kunsthalle Düsseldorf Bild: picture-alliance/Stadtarchiv Düsseldorf/W. Margulies

Über den "Nazischatz" aus Schwabing ist in Israel wenig bekannt

Insgesamt 1590 Werke umfasst die Sammlung, die 2012 bei Cornelius Gurlitt sichergestellt werden konnte. Der "Schwabinger Kunstfund" löste 2012 weltweit einen Aufschrei aus. Vom "Nazi-Schatz" war vielfach die Rede.

Doch ausgerechnet in Israel sorgte der Fund für wenig Aufmerksamkeit. "Ich erfahre jetzt zum ersten Mal von ihm", gesteht Deborah Eytan, die aus Tel Aviv in die Ausstellungseröffnung nach Jerusalem gekommen ist. "Absolut faszinierend" findet sie die Geschichte des Kunsthändlers. Wie er zunächst die Avantgardisten förderte, sich dann aber in den Dienst der Nazis stellte und – trotz oder vielleicht auch wegen seiner jüdischen Großmutter, die ihn nach den Nürnberger Gesetzen zum "Vierteljuden" machte – jüdischen Familien Kunstwerke abpresste. Wie er Kunst nach Hitlers Geschmack besorgte und offenbar doch in seiner Sammlung einige Werke "entarteter Kunst" behielt. "Die Ausstellung wirft für mich mehr Fragen auf, als dass sie sie beantwortet", stellt die 36-Jährige fest, die auch eine persönliche Verbindung zur Geschichte Gurlitts empfindet.

Besucherin Deborah Eytan beim Betrachten der "Zwei Reiter am Strand" von Max Liebermann
Deborah Eytan beim Betrachten der "Zwei Reiter am Strand" von Max LiebermannBild: DW/S. Hofmann

Ihr eigener Urgroßvater war kurz nach der Machtübernahme Hitlers aus Nazi-Deutschland nach London geflohen. Ein Kunsthändler, dessen Geschäft schließlich "arisiert" und dessen Bestände von den Kunsthändlern des NS-Regimes – Männern wie Gurlitt – verkauft wurde. In London kuratierte er 1934 eine der frühesten Ausstellungen mit Werken verfolgter Künstler. Erst kürzlich zeigte Sotheby's in London eine Schau über jene Emigrantengruppe, die die britische Kunstszene revolutionierte und zu der auch Eytans Urgroßvater gehörte. 

"Herkunft wird geprüft"

Viele Besucher der Ausstellungseröffnung in Jerusalem müssen auch an die eigene Familiengeschichte denken. "Ich bin die Tochter von Holocaustüberlebenden", erzählt Ada Markavitz-Ottervanger, ein Mitglied des Freundeskreises des Museums. Die Ausstellung bewege sie sehr. "Aber die Kunst ist wunderbar. Ich schaue mir jedes Bild an und genieße es." Sie habe das Gefühl, mit dieser Ausstellung werde ein Stück Gerechtigkeit gebracht. "Immerhin bekommen wir jetzt hier in Jerusalem die Kunst zu sehen, und sie ist nicht länger irgendwo in einer Wohnung versteckt."

Besucherin Ada Markovitz-Ottervanger in der Ausstellung "Fateful choices: Art from the Gurlitt Trove"
Ada Markovitz-Ottervanger in der AusstellungBild: DW/S. Hofmann

Miri Rosin steht vor zwei Gemälden von Pierre-Auguste Renoir aus dem Jahr 1895 mit dem Titel "Szene aus Ödipus Rex". "Ich habe schon viele Renoirs gesehen", sagt die Israelin, "aber diese beiden hier sind etwas Besonderes. Ganz anders als alles, was ich von Renoir kenne." Unter dem Titel der Werke steht "Provenance undergoing clarification" – die Provenienz wird geprüft. Miri Rosin meint: "Diese Werke sollten in Israel bleiben. Sie gehören dem jüdischen Volk." Es sei doch völlig evident, wie viel Kunst jüdischen Familien in Paris und anderswo in Europa gestohlen wurde.

Doch ganz so einfach ist es nicht mit der Gurlitt-Sammlung. Bisher ließen sich erst sieben Werke eindeutig als Raubkunst identifizieren. Fünf davon konnten Angehörigen der einstigen Besitzer zurückgegeben werden.

Zwei Reiter am Strand

So zum Beispiel das Gemälde "Zwei Reiter am Strand" von Max Liebermann. Als rechtmäßigen Erben konnte die eigens für den Gurlitt-Fund ins Leben gerufene "Taskforce" den New Yorker Anwalt David Toren ausmachen. In einem kleineren Format, einem Pastellentwurf, hängen die zwei Reiter nun auch in der Jerusalemer Ausstellung. Für dieses Bild sind die Besitzverhältnisse noch ungeklärt. Erneut ist hier zu lesen: "Provenance undergoing clarification."

Der Direktor des Israel Museums, Ido Bruno, und die deutsche Botschafterin in Israel, Susanne Wasum-Rainer, bei der Eröffnungsfeier der Ausstellung "The Gurlitt Trove"
Ido Bruno und die deutsche Botschafterin in Israel, Susanne Wasum-Rainer, bei der Eröffnungsfeier der AusstellungBild: Israel Museum Jerusalem/Ofrit Rosenberg

"Natürlich wären wir glücklich, wenn jemand hier in der Ausstellung sagen würde: 'Ja, ich erkenne dieses Bild. Ich habe ein Foto zuhause, das meinen Großvater im Wohnzimmer zeigt, wie er vor genau diesem Gemälde sitzt'", sagt Ido Bruno, Direktor des Israel Museums. "Aber ich glaube nicht daran, dass wir mit unserer Ausstellung die Arbeit der sehr hingebungsvollen Mitglieder der Taskforce dramatisch verändern. Das ist zumindest nicht das Ziel der Ausstellung."

Vielmehr gehe es darum, in Auseinandersetzung mit diesem Fall moralische und ethische Fragen an das Publikum zu stellen. "Die Ausstellung trägt nicht ohne Grund den Titel 'schicksalhafte Entscheidungen'", so Bruno. "Wir stellen an den Besucher ganz klare moralische und ethische Fragen: 'Wie hätte ich an der Stelle von Gurlitt gehandelt?'" Und zwar nicht nur in einer Situation, sondern in den vielen Momenten, in denen sich der Weg des Kunsthändlers und seiner Sammlung entschied, so Bruno. Diese Fragen gingen weit über den historischen Kontext des Falles Gurlitt hinaus. Jede Generation müsse sich diese neu stellen. In Israel und weltweit.