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Im T-Shirt im November

Clemens Hoffmann7. November 2008

„Gestern um zwei Uhr in der Nacht rüttelte meine Frau mich wach: ‚Ich halte es nicht mehr aus!‘, jammerte meine sonst wirklich nicht zum Wehklagen neigende bessere Hälfte. Und unterdrückte ein hysterisches Lachen.

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Clemens Hoffmann auf der Ostkrim
Mail aus... der Ukraine: Clemens Hoffmann hat Sommergefühle im WinterBild: Clemens Hoffmann

Ich knipste das Licht an, blickte in ihr schweißgebadetes Gesicht und wusste, was zu tun ist. Ich ging an den Wäscheschrank und zerrte unsere luftigen Sommerbetten heraus. Die hatten wir vor vier Wochen eingemottet. Schlaftrunken und schwitzend wechselten wir die Bezüge, zogen uns kurze Pyjamas an und versuchten wieder einzuschlafen. Nicht so einfach bei gefühlten 26 Grad.

Zum Heizen gezwungen

Platz der Unabhängigkeit (Majdan Nesaleshnosti) in der ukrainischen Hauptstadt Kiew (19.10.2004/Lesya Yurchenko)
Ein milder Herbst in Kiew beschert den Einwohnern dank der Zentralheizung subtropische Temperaturen in ihren Häusern

Vor ein paar Tagen hat in Kiew wie überall in der Ukraine die Heizperiode begonnen. Auch 17 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion wird in sozialistischer Manier darüber entschieden, wann es soweit ist. Die allgemeine Wetterlage ist dabei nur einer von vielen geheimnisvollen Faktoren. Am Ende legt dann jemand im Gas-Kraftwerk den Schalter um. In den Heizkörpern beginnt es geheimnisvoll zu gurgeln und wenige Stunden später bullert wohlige Fern-Wärme in die ausgekühlten Wohnungen der Werktätigen.

Nun war der Herbst in Kiew bislang angenehm mild und die Nächte wären mit einer anständigen Bettdecke gut auszuhalten. Doch die Heizkörper einfach herunterdrehen – das geht nicht. Thermostate sind in der Ukraine unbekannt. Auch in unserer Wohnung kann man die Heizung nirgendwo abstellen.

Als ob es keine Wirtschaftskrise gäbe

So stehen bei uns - und bei allen Nachbarn - Tag und Nacht die Fenster offen. Die Gaspreise mögen explodieren, die Weltwirtschaftskrise mag die Ukraine im Würgegriff haben - geheizt wird, als gäbe es keinen Klimawandel und keine Rohstoffknappheit. Und der Irrsinn hat System: Die Nebenkosten sind absurd gering, weil sie staatlich subventioniert sind. Damit bloß niemand auf die Idee kommt, Energie zu sparen.

Ein Cocktail mit Schirmchen steht im Sand
Urlaubsstimmung im November - nur zu früh dunkel wird es.Bild: BilderBox

Und so beginnt für uns der November im T-Shirt. Wir trinken kalte Apfelschorle und schwitzen bei der kleinsten Bewegung in unseren subtropischen vier Wänden. Leider wird es in Kiew bereits am Nachmittag dunkel, was den Urlaubseffekt etwas schmälert. Dafür ist nachts das Sommergefühl wieder da.

Kaum lag ich unter meiner dünnen Decke, vernahm ich das feine Summen einer Mücke dicht an meinem Ohr. Eine halbe Sekunde später spürte ich ein Brennen an der Wange. Dieses aufgeweckte Winterschläfer-Biest hatte mich erwischt. Oder war es eher eine Spätsommerüberlebende? Egal. Ich knipste die Nachttischlampe an und torkelte missmutig ins Bad, um die Flasche mit dem Insektenschutz suchen. Ich verwünschte die Mücken, rieb mich mit der nach Wachholder duftenden Creme ein und dachte dabei sehnlichst an die ersten Schneeflocken.