1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Frisch radikalisiert im Jugendknast?

Judit Neurink tön
17. August 2018

Zahlreiche einstige Nachwuchskämpfer des IS sitzen in irakischen Gefängnissen lange Haftstrafen ab. Viele frischen dort ihre Radikalisierung auf. Ein Besuch im Jugendknast von Erbil.

https://p.dw.com/p/33H1p
Irak Young IS | Tor des Juvenile Gefängnisses in Irbil
Eingang des Jugend-Gefängnisses in ErbilBild: DW/Judit Neurink

"Ich habe keine Ahnung, wie viele Haschd ich getötet habe", sagt der 18-jährige Khayralah Mezadivan über die Zeit, als er im Irak für die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) gegen die schiitischen Paramilitärs Haschd al-Schaab kämpfte. "Keiner hat den Spielstand nachgehalten", scherzt er.

Khayralah sitzt an einem Tisch in der Bibliothek des Jugendgefängnisses in der kurdischen Hauptstadt Erbil, wo er eine neunmonatige Haft absitzt. So wie rund hundert weitere arabische Jugendliche, die von Peschmerga-Einheiten als IS-Anhänger festgesetzt wurden. Viele hatten geleugnet vom IS ausgebildet und eingesetzt worden zu sein. Nicht so Khayralah. Er gab offen zu, nicht nur für die Polizei des IS gearbeitet, sondern auch direkt an der Front gekämpft zu haben. Nun trägt er sein langes Haar eng zusammengebunden unter schwarzer Kleidung und seine Hose oberhalb der Knöchel. Ganz so, wie es der IS von Männern verlangt.

Iraq Hashed al-Shaabi Truppen
Einheiten der Haschd-al-Schaabi-Milizen im IrakBild: picture-alliance/dpa/MXPPP/C. P. Tesson

Khayralah war eine der Nachwuchshoffnungen des vom IS ausgerufenen "Kalifats", eines der jungen Talente, in denen der IS seine Zukunft sah. Warum folgte er mit 14 Jahren in Mossul dem Ruf des IS? "Ich mochte, wie sie den Koran erklärten", sagt er. Außerdem sei die Lage schlecht gewesen: "Es gab keine Arbeit, kein Wasser, keine Elektrizität.", so Khayralah und ergänzt: "Sie haben mir auch Strafen angedroht, falls ich mich ihnen nicht anschlösse." Das Gefängnispersonal sieht in Khayralah weiterhin eine Gefahr, denn "der IS fasziniert den 18-Jährigen noch immer", heißt es.

Zahl minderjähriger Häftlinge unbekannt

In den drei Jahren Krieg gegen den "Islamischen Staat" wurden rund 20.000 Männer und Jugendliche wegen Verbindungen zu der Terrorgruppe verhaftet und in kurdischen oder irakischen Gefängnissen inhaftiert. Wie viele Minderjährige darunter sind, ist nicht ganz klar, die Statistiken sind unvollständig. Gefängnisbesuche von Journalisten und Beobachtern sind selten. Und Kameras, Handys oder Aufnahmegeräte sind verboten.

Irak Kirkuk Peschmerga-Kämpfer und IS-Gefangene
Oktober 2017: Peschmerga-Kämpfer haben Anhänger des IS bei Kirkuk verhaftet Bild: Reuters/A. Rasheed

Klar ist: Im irakischen Kurdengebiet sitzen mehr als hundert Minderjährige in Gefängnissen. Im März 2017 befragte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) 150 inhaftierte Unter-Achtzehnjährige. Inzwischen dürfte diese Zahl vermutlich höher liegen, da der Krieg erst drei Monate später endete. Unlängst berichtete das HRW, dass irakische Richter zwischen vier-bis fünfhundert Minderjährige zu teilweise langen Gefängnisstrafen verurteilt haben, darunter auch Ausländer. 

Ex-IS-Kämpfer: "Wir waren unterwegs in den Himmel"

Schnellprozesse irakischer Gerichte gegen ausländische IS-Kämpfer, stießen auf großes mediales Interesse. Nicht so dagegen die Verfahren gegen einheimische Jugendliche, die sich im IS-Netz verfangen hatten. Die Überlebenden und später Gefassten unter ihnen ließen sich in drei Kategorien unterteilen, meint Gefängnis-Sozialarbeiter Jwanro Majid: Zum einen die, die die wegen Geld, Waffen oder Autos mit dem IS zu tun hatten. Dann jene, die eine Grundausbildung des IS durchlaufen haben.

Und schließlich seien da die ehemaligen Kämpfer. Zu dieser letzten, zahlenmäßig kleinsten Kategorie gehört Khayralah Mezadivan. Gefragt, was denn gut am IS gewesen sei, sagt er:" Wir waren auf dem Weg in den Himmel, wo wir Frauen bekommen hätten, ja, sogar Freunde des Propheten Mohammed geworden wären."

Irak Young IS | Verlassener IS-Checkpoint bei Rabia
Ein verlassener IS-Checkpoint bei Rabia Bild: DW/Judit Neurink

Damals habe er das geglaubt, erzählt Khayralah. "Jetzt denke ich, das sind nur Märchen." Er bedauere, so viele Menschen im Kampf getötet zu haben, sagt er. Seine Kleidung und Gestik sagen etwas anderes. Da ist diese Art, mit der er immer wieder Koranverse einfließen lässt. Und dann verteidigt er plötzlich vehement den IS. Nichts sei dran an der Behauptung, die Kämpfer hätten mit Drogen ihre Angst unterdrückt: "So waren wir nicht, das sind nichts als Geschichten", sagt er. Der Koran lehre, wer die Angst nicht spüre, sei dumm.

Dschihadistische Traumdeutung 

Auch das Buch, das er sich in dieser Woche in der Bücherei ausgeliehen hat, verdeutlicht, wie nahe er dem IS noch steht. "Ich träume viel", sagt er. "Also habe ich mir ein Buch ausgeliehen, das Träume erklärt." Radikalislamische Gruppen wie Al Kaida oder der IS sehen in der Traumdeutung bedeutsames prophetisches Potenzial.

Irak Reportage "Mossul 1 Jahr nach der Befreiung" | Tigris-Ufer und zerstörte Altstadt
Bild der Zerstörung: Die Altstadt von Mossul am Tigris-Ufer ein Jahr nach der Befreiung der Stadt vom ISBild: DW/S. Petersmann

Unverändert geblieben ist auch Khayralahs feindliche Haltung gegenüber den Schiiten-Milizen, gegen die er gekämpft hatte. Wegen ihnen wolle er nach seiner Freilassung nicht zurück nach Mossul: "Die Stadt ist noch in der Hand der Haschd", sagt er, und fügt an:" Das sind alles Verbrecher."

Scheu vor der Rückkehr nach Mossul

Seiner Familie in Mossul gehe es gut, sagt Khayralah auf Nachfrage. Unerwähnt lässt er, dass seine Familie ihn wahrscheinlich nicht wieder aufnehmen wird - aus Angst, die ganze Familie könne wegen seiner IS-Verbindungen aus der Gemeinde verstoßen werden. 

Unerwähnt bleibt auch ein weiterer schwerwiegender Grund, weshalb er eine Rückkehr scheut. Er würde umgehend verhaftet werden. Und dann droht ihm die Todesstrafe. Bagdad erkennt die Urteile kurdischer Gefängnis-Gerichte nicht an – und verhängt ausnahmslos die Todesstrafe gegen ehemalige IS-Kämpfer.

Irak Altstadt aus Mossul
Auf dem Grafitti in einer Altstadt-Gasse von Mosul steht: "ISIS - we want your blood"Bild: DW

Tatsächlich ist die neunmonatige Haftstrafe milde angesichts der begangenen Taten, verglichen etwa mit sechsmonatigen Haftstrafen anderer Jugendlicher, die nur IS-Trainings in Moscheen beigewohnt haben. Khayralah Mezadivan grinst und sagt, er habe halt einfach die Fragen des Richters beantwortet.

Kein Respekt gegenüber Nicht-Muslimen 

Sozialarbeiter Majid fühlt sich machtlos angesichts von Jungs wie Khayralah. Sie seien schwierige Insassen, berichtet er. Zum einen, weil ihnen das Gefängnis nach den Härten der Front wie ein Hotel erscheine. Zum anderen habe der IS sie angehalten, sich gegenseitig zu bespitzeln. Und jeder von ihnen sorge sich um "sein" Paradies, erläutert Majid. "Der IS hat ihren Verstand deformiert."

Irak Young IS | IS-Graffiti in der Sinjar-Region
Graffiti des "Islamischen Staats in der irakischen Sinjar-Region Bild: DW/Judit Neurink

"Gegenüber dem Gefängnispersonal, Wachen oder Sozialarbeitern haben sie keinerlei Respekt", berichtet der Sozialarbeiter. "Für sie sind wir Ungläubige. 'Ihr seid keine Muslime', sagen sie." Aus Sicht dieser Jugendlicher werde sich die Welt nur dann zum Guten wenden, wenn sie muslimisch werde.

Mit Fußball und Musik gegen den radialen Islam

Sozialarbeiter Majid und seine Kollegen versuchen, die Jugendlichen vom radikalen Islam zu lösen. "Wir sorgen dafür, dass sie beschäftigt sind", erklärt er. Es gebe Kurse, Computer, Bücher und Fußball. Und Diskussionen mit ausgesuchten jungen Imanen. Die scheinen die Jungs besser zu erreichen. Wir wollen hier keine alten Sheikhs mit überkommenen Ideen, sagt Majid.

Auch Musik gehört zum Angebot. Die war beim IS verboten. "Der Musiker, der Klavier und Gitarre unterrichtet, ist erstaunlich beliebt bei den Jungs", berichtet Majid. "Sie haben ihm gesagt: '"Wir können nicht schlafen, nachdem wir Musik gehört haben, weil wir so glücklich sind.'"

Überbelegung bedeutet Radikalisierung

UNICEF und andere internationale Organisationen haben Majid und seine Kollegen in Entradikalisierung unterrichtet. Aber das Gefängnis ist überbelegt. So ist es unvermeidlich, dass die Hardliner miteinander iin Kontakt kommen und sich weiter radikalisieren. Eine gefährliche Konstellation. Schließlich wurde der IS in einem irakischen Gefängnis geboren. Gefragt nach einer Prognose für jugendliche Insassen wie Khayralah, zeigt sich zeigt Majid ußerst pessimistisch: "Wir glauben, sie werden zum IS zurückkehren. Selbst nach zehn Jahren im Gefängnis."