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Kein normales Leben mehr

Jacob Resneck, Turkey/ cb19. Oktober 2015

Kurz vor der Wahl entwickeln sich die vornehmend kurdischen Gebiete in der Türkei zu Schlachtfeldern, auf denen sich Soldaten und Guerillas bekämpfen. Darunter leiden vor allem die Anwohner, berichtet Jacob Resneck.

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Barrikaden in der Stadt Cizre an der Grenze zu Syrien. (Foto: DW/Jacob Resneck)
Bild: DW/J. Resneck

"Konflikt niedriger Intensität". Was das bedeutet, erleben jeden Tag die Bewohner von Diyarbakir, praktisch die Hauptstadt vom kurdischen Südosten der Türkei. Nach Sonnenuntergang brennen Barrikaden, Schießereien sind zu hören und auf den Straßen sind Jugendliche mit Molotov Cocktails unterwegs. Die Situation eskaliert immer weiter. Sicherheitskräfte sperren Straßenzüge ab, in den täglich Jugendliche und die Polizei gewaltsam aneinandergeraten.

"Man kann jetzt sehen, dass der Friedensprozess vorbei ist - die demokratische Atmosphäre ist verschwunden," sagte Abdullah Demirbas, der ehemalige Bürgermeister des Sur Distrikts, von seinem Krankenhausbett in Diyarbakir.

Demirbas liegt wegen Blutgerinnseln in seinen Beinen auf der Intensivstation. Vorher war er im Gefängnis, weil er die verbotene Union der Gemeinschaften Kurdistans finanzierte - und wegen anderer Taten, die er aber bestreitet.

Er ist nur einer von vielen Führungspersönlichkeiten, die vom Innenministerium festgenommen und inhaftiert worden sind, weil sie verbotene kurdische Organisationen unterstützt haben sollen. Aber Demirbas sagt, dieses Vorgehen würde gewählte Volksvertreter aus dem Verkehr ziehen und die lokale Bevölkerung radikalisieren.

"Das einzige, was der Staat tut, ist Brücken einzureißen", sagte Demirbas.

Wut über den Tod Unschuldiger

Im Innenstadt-Viertel Baglar wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Straßenkämpfe hier haben Wohnhäuser und Läden beschädigt und zu tagelangen Stromausfällen geführt. Die Kontrolle über die Straßen wechselt zwischen immer aggressiver auftretenden jugendlichen Milizen.

Politiker müssen vorsichtig sein, was sie sagen, da die Unterstützung von Militanten Gefängnis bedeuten kann. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) kritisiert die Gewalt des Staates, ist aber darauf bedacht, nicht die illegalen Aktivitäten der Jugendbanden gutzuheißen.

"Wir unterstützen ihre Vorgehensweise nicht, aber wir können ihre Frustration verstehen", sagte Ziya Pir, ein HDP Abgeordneter in Diyarbakir, dessen verstorbener Onkel einer der Gründer der heute verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans war. "Die Polizei verhaftet Menschen in ihrem Umfeld und es ist natürlich, dass sie da Widerstand leisten wollen."

Zivile Opfer sind unvermeidbar. Am 11. Oktober wurde die 12-jährige Helin Sen erschossen, angeblich von Sicherheitskräften während der Ausgangssperre. Das Büro des Gouverneurs bestätigte den Tot des Mädchens, machte aber keine Angaben zum Täter.

Freunde und Nachbarn sagen, sie seien sich sicher, dass die Polizei Schuld an Helins Tod ist. Sie können genau den Ort zeigen, an dem das Mädchen erschossen wurde.

"Da drüben ist ihr Haus und sie war unterwegs, um Brot zu kaufen", sagte der 14-jährige Veyser, der jünger aussieht, als er ist, aber wie ein Erwachsener redet. "Sie ging im Schusswechsel zu Boden, aber keiner konnte sie da wegholen."

Die Wände der Umgebung sind mit Graffitis der Patriotischen Revolutionären Jugendbewegung (YDG-H) geschmückt. Die Jugendmiliz hat Verbindungen zum inhaftierten Anführer der PKK, Abdullah Öcalan.

Nach seiner Meinung zur YDG-H gefragt, wurde der zuvor so selbstsicher auftretende Veyser plötzlich ruhig - er war sich offensichtlich bewusst, dass Freunde und Nachbarn auf seine Antwort warteten. Dazu habe er keine Meinung, murmelte der Jugendliche.

"Aber", fügte Veyser hastig hinzu, "ich mag sie immer noch lieber als die Polizei, weil sie keinen von uns umbringen."

Zwischen allen Stühlen

Gegenüber einer Moschee aus dem 16. Jahrhundert haben sich vermutlich Sicherheitskräfte verewigt, mit Graffiti Schriftzügen wie "Der Staat ist hier" und "Ihr werdet die Macht der Türken erkennen".

Graffiti an einer Häuserwand. (DW/Jacob Resneck)
Rechts: "Ihr werdet die Macht der Türken erkennen", oben: "Allahs Macht ist groß genug für alles"Bild: DW/J. Resneck

Die neutralen Bewohner sitzen zwischen allen Stühlen. Während beide Seiten laut ihre Unterstützung für die PKK oder die YDG-H Kämpfer verkünden, sagen die Neutralen, dass sie von der Gewalt beider Parteien genug haben.

"Genug ist genug - wir wollen keine Gewalt in unserer Nachbarschaft mehr", sagte die 34-jährige Lela, während sie ihrem Sohn dabei zuschaut, wie er ein PKK-Graffiti an ihrem Haus übermalte. "Wir wollen einfach ein normales Leben leben."

"Jegliches Vertrauen in den Staat verloren"

Straßenkämpfe wie in Diyarbakir werden in der Region immer häufiger. Entlang der Grenze mit Syrien liegt Cizre, eine Stadt die im September in den Schlagzeilen war, als die Bewohner unter einer neuntägigen Ausgangssperre standen und ihre Häuser nicht verlassen durften, während Soldaten gegen die YDG-H kämpften.

Nach Regierungsangaben starben mehr als 30 Kämpfer, Anwohner sagen, dass mindestens 23 von ihnen unbewaffnete Zivilisten waren.

Die Auseinandersetzungen begannen, nachdem Ratsmitglieder Autonomie erklärten und die YDG-H Miliz Gräben anlegte und Barrikaden aufbaute. Beamte sagen, dass die Barrikaden eine Provokation darstellten und sie deswegen Sicherheitskräfte schicken mussten, um die Ordnung wieder herzustellen.

Cizres gewählte Bürgermeisterin Leyla Imret, die im September ihres Amtes enthoben wurde, weil sie angeblich Milizen unterstützt hatte, hingegen sagte, dass es in der Vergangenheit erfolglose Versuche gegeben hatte, Kompromisse mit den staatlichen Behörden zu finden.

"Wir hatten Verhandlungen mit dem Gouverneur, haben die Barrikaden abgebaut, aber die Polizei tauchte auf und ermordete drei Zivilisten", sagte Imret. "Ich ging zum Gouverneur des Distrikts und habe ihn gefragt, warum sie das getan haben. Das war der Moment, in dem ich jegliches Vertrauen in den Staat verloren habe."

Kein normales Leben mehr

Die ständigen Kämpfe machen ein normales Leben unmöglich. Naziye Menekse, ein 18-Jähriger, der Sportlehrer werden möchte, sagte viele seiner Klassenkameraden seien in die Berge gezogen und Teil der PKK geworden.

Kinder vor einem Straßengraben. (Foto: DW/Jacob Resneck)
Die Milizen haben Straßengräben ausgehoben, damit Panzer nicht in die Stadtteile kommenBild: DW/J. Resneck

Er hat kein Interesse daran, zu kämpfen. Ein Panzer überrollte und tötete seinen 12-jährigen Bruder Yahya während einer Demonstration 2008. Die Mutter hat ein großes Foto des älteren Sohnes eingerahmt, zusammen mit einer Inschrift, die das Märtyrer-Dasein des Jungen würdigt.

"Das Leben hier ist schlimm für junge Menschen", sagte Menekse. "Viele wollen nicht mehr zur Schule gehen, weil alles für uns zum Problem wird."

Einige spekulieren, dass der Aufstieg der YDG-H Jugendmiliz ein Symptom der wachsenden Radikalisierung in der Region ist, aber andere glauben, dass die Gruppe als Stellvertreter für die PKK fungiert. Die kurdische Guerilla-Bewegung ist bekannt dafür, Rivalen auf ihrem Gebiet auszuschalten und es ist nur schwer vorstellbar, dass die YDG-H ohne Genehmigung vorgehen könnte.

Wer auch immer dahinter steckt, führende HDP Mitglieder wie Osman Baydemir sagen, dass junge Menschen immer radikaler werden und dass es nur schlimmer werde, bis die Regierung endlich den Friedensprozess wieder aufnehmen würde.

"Diese neue Generation wird wütend und nimmt deswegen die Sache selbst in die Hand", sagte Baydemir. "Diese selbstbestimmten Gruppen - niemand kontrolliert sie. Wenn wir dem Kampf kein Ende bereiten, werden wir unsere letzte Chance verlieren."

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