1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kinderfest und Schlagstöcke

Benjamin Bidder, Nischnij Nowgorod27. März 2007

Was ist bloß mit Russland los? Ein Land, in dem Polizisten auf alte Frauen und Journalisten einschlagen, in dem die Meinungen der Unzufriedenen systematisch unterschlagen werden - mit den perfidesten Mitteln.

https://p.dw.com/p/A9n2
Grafik Fernschreiber Moskau

Am vergangenen Samstag (24.3.2007) sollte in Russland ein weiterer "Marsch der Unzufriedenen" stattfinden, dieses Mal in Nischnij Nowgorod. Doch der Marsch fiel aus: Tausende Milizionäre und Truppen des Innenministeriums hatten das Stadtzentrum weiträumig abgeriegelt – kaum ein "Unzufriedener" kam durch. Stattdessen veranstaltete die Stadt ein Kinderfest.

Szenen wie in einer Stadt unter Belagerung. Die beiden Hauptplätze von Nischnij Nowgorod, etwa 500 Kilometer östlich von Moskau, sind seit den frühen Morgenstunden weiträumig abgesperrt. In der Fußgängerzone haben die Sicherheitsbehörden mehrere Kontrollposten errichtet – auch unser Kamerateam wird mehrfach an- und aufgehalten, Sicherheitsbeamte in Zivil notieren akribisch unsere Personalien. Die Frage nach dem Grund des Aufgebotes beantwortet ein Polizist grinsend: "Heute ist doch ein Kinderfest auf dem Gorkiplatz."

Tatsächlich: Von einem Cordon aus Einheiten des Innenministeriums umringt findet mitten auf dem Gorkiplatz, zu dem auch die "Unzufriedenen" marschieren wollen, ein Kinderfest statt. "Das haben die aus der Stadtverwaltung nur gemacht, damit sie sagen können, dass auf dem Platz bereits eine Veranstaltung ist und sie unsere Aktion auflösen können", erklärt mir Denis, einer der Organisatoren des Marsches. Gerüchte laufen um, die Demonstranten, die nicht auf den Platz gelassen werden, würden sich irgendwo in der Nähe sammeln. "Wo, das wird ihnen niemand sagen, wir befürchten, dass die Handys abgehört werden", sagt Denis. Den Pressedienst der Veranstalter versuche ich vergeblich zu erreichen. "Alle verhaftet oder in ihren Wohnungen festgesetzt", antwortet eine Frau am Telefon des Pressesprechers. Am Himmel über uns schwirrt ein Polizeihubschrauber.

20, vielleicht 30 Aktivisten gelangen dennoch auf den Gorkiplatz. Vor ihnen bauen sich Einheiten der Miliz mit Schilden und Schlagstöcken auf, etwa vier Hundertschaften. Einige der Demonstranten halten Transparente und rote Fahnen, manche schreien den Polizisten zugewandt "Faschisten, Faschisten! Wir brauchen ein anderes Russland!". Ludmilla, eine ältere Dame, ist völlig außer sich: "Ich bin hier, weil ich nicht damit einverstanden bin, was in diesem Land passiert. Das ist ein freies Land, mein Land, in dem ich meine Meinung sagen kann."

Die Milizionäre rücken in geschlossener Reihe vor auf die Demonstranten und den Pulk Journalisten vor. Mit ihren Knüppeln trommeln sie drohend auf ihre Schilder. Der Schildwall hält inne, eine Lücke öffnet sich und ein Greifkommando stürmt auf die Demonstranten zu. Wer in ihrem Weg steht, bekommt die Knüppel zu spüren: Studenten, alte Frauen, Journalisten.

Die Demonstranten werden in Busse gebracht und abtransportiert. Später ist von mehr als 100 Festnahmen die Rede. Die meisten davon wurden, so die Organisatoren, bereits im Vorfeld verhaftet oder in ihren Wohnungen festgesetzt. Kurz darauf tritt der stellvertretende Gouverneur Sergei Potapov auf einem gespenstisch leeren Platz vor die versammelten Journalisten: "Die Veranstaltung war nicht genehmigt, deswegen wurde sie aufgelöst. Es kam keine Gewalt zum Einsatz."