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Politik

Klage gegen Lukaschenko in Deutschland: Opfer berichten

Anna Stork
12. Mai 2021

In Deutschland ist im Namen von zehn Opfern, die in Belarus gefoltert wurden, Anzeige gegen Lukaschenko erstattet worden - wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die DW hat mit zwei Opfern gesprochen.

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Belarus Tausende protestieren gegen Lukaschenko in Minsk - Festnahmen
Festnahme nach einer Protestaktion in Minsk (Archiv)Bild: Ulf Mauder/dpa/picture alliance

"Ich schlafe kaum und bekomme Antidepressiva und Schlaftabletten verschrieben. Seit der Folter habe ich Taubheit in den Fingerspitzen. Es fällt schwer, darüber zu sprechen, dass ich geschlagen, gedemütigt wurde und mir damit gedroht wurde, mir einen Schlagstock in den Anus zu schieben. Man will sich nicht daran erinnern", sagt Walerij Samolasow mit zittriger Stimme.

Verdacht und Folter wegen eines T-Shirts

Der belarussische IT-Spezialist, der seit Juli vergangenen Jahres in Großbritannien tätig ist, wollte in Belarus Urlaub machen, Papierkram erledigen und bei der Gelegenheit seine Stimme bei der Präsidentenwahl am 9. August 2020 abgeben. Walerij wohnte in einem Vorort von Minsk und das Internet funktionierte an diesem Tag nicht. Von Bekannten erfuhr er, dass am Abend des Wahltages, nachdem Alexander Lukaschenko zum Sieger erklärt worden war, in ganz Belarus Proteste gegen das Wahlergebnis begannen. Menschen wurden massenweise festgenommen; Walerij am nächsten Tag auf dem Weg zu einem Kollegen in der Innenstadt auch.

"Ich ging den Bürgersteig entlang. Plötzlich wurde ich umzingelt und befragt. Ich antwortete höflich, zeigte meinen Ausweis", erinnert sich Walerij, der ein T-Shirt mit dem Schädel-Logo des Marvel-Films "The Punisher" trug. Die Polizisten sagten, der Schädel sei auch ein Symbol des ukrainischen rechtsradikalen Freiwilligen-Bataillons Asow, das im Osten der Ukraine kämpft. Es hat jedoch keinen Schädel als Symbol. "Ich wurde immer an das T-Shirt erinnert, bevor ich geschlagen wurde", sagt Walerij.

Zudem interessierten sich die Polizisten für seine britischen Bankkarten, eine SIM-Karte in englischer Sprache, sowie für die Telefonverbindungen nach Großbritannien. "Sie dachten, sie hätten den Organisator des Protestes geschnappt", so Walerij. Den ersten Schlag gegen die Brust erhielt er in einem Hinterhof ​​unweit des Bahnhofs. Dann reichten die Polizisten Walerij an Kollegen weiter und sagten, auf den "ausländischen Spion" müsse besonders aufgepasst werden.

 IT-Spezialist aus Belarus Valery Samalazau
Walerij Samolasow nach der Entlassung aus der UntersuchungshaftBild: Valery Samalazau/privat

Am brutalsten wurde er in einer Polizeistation und im Gefangenentransporter auf dem Weg zum Untersuchungsgefängnis behandelt. "Der Transporter ist eine Folterkammer auf Rädern. Viele Menschen haben darin geschrien, geweint, gebetet, mache sich erbrochen. Ich habe zweimal vor Schmerzen das Bewusstsein verloren", sagt Walerij.

Seine Hände wurden mit einem breiten Band hinter seinem Rücken zusammengequetscht. Doch Walerij ertrug den Schmerz still. Daraufhin wurden ihm die Arme noch stärker verdreht, begleitet von Schlägen. "Sie beugten sich über mich und flüsterten: 'Offenbar fürchtest Du keine Schmerzen, aber wir schaffen es, dass es weh tun wird.' Mein Kreislauf brach zusammen und meine Arme waren bis zu den Ellbogen taub. Die Schmerzen waren unerträglich. Ich nahm den Mut zusammen und bat, das Band zu lockern. Und ich sagte, ich müsse drei Kinder ernähren", berichtet Walerij. Doch ihm wurden die Hände hinter dem Rücken noch stärker gequetscht, bis er das Bewusstsein verlor.

Als Walerij am Untersuchungsgefängnis in der Stadt Schodino ankam, musste er als einziger im Transporter bleiben. "Ich musste knien, dann aufstehen, was ich nicht mehr konnte, und ich fiel um. Dann wurde ich an die Wand gestellt und auf Kopf, Brust, Bauch und Beine geschlagen. Als ich aus dem Transporter geworfen wurde musste ich knien, bis mein Nachname aufgerufen wurde. Wieder sagten maskierte Männer, auf mich müsse besonders Acht gegeben werden", so Walerij.

"Wir wurden beschuldigt, 'Puppenspieler' zu sein"

Der polnische Journalist Kacper Sienicki wurde am 10. August 2020 im Zentrum von Minsk festgenommen. "Ich ging mit einem befreundeten Fotoreporter die Straße entlang. Dann wurden wir einfach mit einem Bus zu einem Gefangenentransporter gebracht, mit dem wir zu einer Polizeistation gefahren wurden. Dort wurden wir geschlagen und unserer Nationalität wegen beleidigt. Wir wurden beschuldigt, 'Puppenspieler' zu sein, die den Protest anführen und eine Farbrevolution organisieren würden", sagt der freiberufliche Journalist aus Warschau. Kacper wollte in Minsk alles mit eigenen Augen sehen und für die polnische Öffentlichkeit berichten. Stattdessen saß er gut 72 Stunden in einer Polizeistation und im Untersuchungsgefängnis in Schodino.

Geschlagen wurde er noch, bevor er zur Polizeistation gebracht wurde. "Mein Freund wurde bereits im Bus verprügelt und dabei wurde er bewusstlos. Ich wurde im Transporter geschlagen. Aber am schlimmsten war es in der Polizeistation. Dort wurden wir mit fest auf dem Rücken gefesselten Händen mit dem Gesicht zu Boden gelegt. Wir konnten uns nicht bewegen. Man drohte, uns alle Zähne auszuschlagen. Dann mussten wir mit dem Gesicht zu Boden knien. Meine Beine waren taub", erinnert sich Kacper.

Ihm zufolge wurden diejenigen, die dies nicht ertrugen, zusätzlich mit einem Schlagstock geschlagen: "Wir wurden mehrmals in den Flur gebracht und dort geprügelt. Wir hörten die Schreie anderer Menschen und sahen Blutspuren. Wir wurden auch psychisch mit Baseballschlägern unter Druck gesetzt und wir wussten nicht, was uns erwartet. Wir durften weder Wasser trinken, noch essen, schlafen oder auf die Toilette gehen."

Polen Journalist Kacper Sienicki
Der polnische Journalist Kacper Sienicki wollte aus Minsk berichtenBild: Privat

Dokumentierte Folterfälle und Klage gegen Lukaschenko

Walerij Samolasow und Kacper Sienicki gehören zu den zehn Personen, in deren Auftrag sich deutsche Anwälte an die Bundesanwaltschaft gewandt haben. Sie werfen dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Denn bei den Protesten nach der Präsidentenwahl im August 2020 hatten die Behörden massiv Gewalt gegen Zivilisten eingesetzt.

Diejenigen, die in Deutschland Strafanzeige erstattet haben, wurden bei ihrer Festnahme gefoltert, betonen ihre Anwälte. Da jedoch in Belarus wegen Folter kein einziges Verfahren gegen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane eingeleitet wurde und auch Lukaschenko keine rechtlichen Konsequenzen drohen, hoffen die Anwälte und Opfer jetzt auf eine unabhängige Untersuchung in Deutschland, wo die belarussische Diaspora Folterfälle dokumentiert. Insgesamt liegen Informationen über 100 Fälle vor. "Es gibt Opfer, die sich in Deutschland befinden, andere sind in Belarus. Wir sind mit vielen Initiativen in Verbindung, die den Kontakt zu Menschen herstellen", sagt Anton Malkin, Vertreter der Diaspora.

In Belarus wurde kein Strafverfahren eröffnet

Walerij Samolasow wurde nach 84 Stunden aus dem Untersuchungsgefängnis in Schodino entlassen. Danach lag er wegen eines Schädel-Hirn-Traumas und einer Armverletzung zwei Wochen im Krankenhaus. Neben einer Bescheinigung über die Untersuchungshaft und den Krankenhausaufenthalt gibt es aber keine Dokumente über seine Festnahme.

"Es wurde kein Protokoll gefunden. Über meinen Fall gibt es nichts bei der Polizei, auch nicht in Schodino. Es gab kein Gerichtsverfahren", so Walerij. Er reichte eine Beschwerde gegen das Innenministerium wegen der Schläge ein, aber ein Verfahren wurde wegen "fehlender Straftat" abgelehnt. Zurück in London wandte sich Samolasow an britische Anwälte. Doch um ein Verfahren einzuleiten, müsste sich der Angeklagte in Großbritannien aufhalten. Daher beschloss Walerij, sich der Klage in Deutschland anzuschließen.

Kacper Sienicki will sich dafür einsetzen, dass das Lukaschenko-Regime als terroristisch eingestuft wird. "Deshalb beteilige ich mich und werde aussagen. Ich will für Gerechtigkeit für die Belarussen und für mich selbst kämpfen", betont der junge Journalist. Er hofft, dass die Klage helfen wird, mehr internationale Aufmerksamkeit auf Belarus und die dortigen Repressionen zu lenken. Kacper möchte, dass die Belarussen wissen, dass sie sich an Gerichte in anderen Ländern wenden können.

Verfahren in mehreren EU-Ländern

Während der Proteste in Belarus, die im August 2020 als Reaktion auf die Fälschung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen begannen, berichteten Tausende von Belarussen von Schlägen, Gewalt und Folter seitens der Behörden. Nach offiziellen Angaben gingen bei den belarussischen Ermittlern etwa 1800 Anzeigen von Opfern ein, aber es wurde kein einziges Verfahren eingeleitet. Gleichzeitig begann man, sich in europäischen Ländern diesen Straftaten anzunehmen - neben Deutschland gibt es auch in Litauen, Polen und der Tschechischen Republik Klagen.

Ferner verabschiedete Ende März 2021 der UN-Menschenrechtsrat eine Sonderresolution zu Belarus, die den UN-Mechanismus zur Dokumentation von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Belarus einleitet. Die UNO wird Menschenrechtsverletzungen in der Zeit nach den Wahlen untersuchen und Beweise sammeln, um die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Großbritannien, Dänemark und Deutschland haben zudem die Dignity-Plattform ins Leben gerufen. Auf ihr sollen Beweise für grobe Menschenrechtsverstöße in Belarus, insbesondere Folter, sexuelle Gewalt, Entführung und Mord, gesammelt werden.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk