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Chemnitz zeigt Videoinstallation "Again"

Pacinthe Mattar eg, bb
4. Oktober 2018

Eigentlich sollte Mario Pfeifers Videoinstallation über einen ad acta gelegten fremdenfeindlichen Angriff erst im kommenden Jahr gezeigt werden. Wegen der jüngsten Entwicklungen in Sachsen ist sie schon jetzt zu sehen.

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Stills der Videoinstallation von Mario Pfeifer - Again - Noch Einmal
Bild: KOW/Mario Pfeifer Studio

Die Bilder und Nachrichten über die rechten Ausschreitungen in Chemnitz nach dem Tötungsdelikt an einem Deutschen - mutmaßlich verübt durch Männer aus dem Nahen Osten - gingen um die Welt. Ausführlich widmete und widmet sich die deutsche Presse in der Folge der Frage nach dem Warum und wie der Fremdenhass und die damit einhergehende Gewalt gestoppt werden kann. 

Ein Vorfall im sächsischen Arnsdorf von 2016, bei dem ein Geflüchteter von vier deutschen Männern nach einem Streit im Supermarkt an einen Baum gefesselt wurde, zog hingegen nur sehr wenig Aufmerksamkeit auf sich. Mit der Installation "Again / noch einmal" des Künstlers Mario Pfeifer, die bereits bei der diesjährigen Berlin Biennale zu sehen war, wollen die Kunstsammlungen Chemnitz nun an das wenig beachtete Geschehnis erinnern und zogen ihre für 2019 geplante Schau angesichts der derzeitigen Entwicklungen in Sachsen vor. 

Brutale Selbstjustiz oder "selbstloser Akt der Zivilcourage"?

"Again" greift die Geschichte des 21-jährigen irakischen Flüchtlings Shabaz Saleh Al-Aziz auf, der 2015 alleine aus dem Irak nach Deutschland kam, um Hilfe für seine Epilepsie zu erhalten. Am 21. Mai 2016 kommt es in einem Lebensmittelgeschäft zu einem Streit zwischen ihm und der Kassiererin. Nachdem er mehrmals an dem Tag aufgeregt in den Laden zurückgekehrt war, schleppten ihn vier Männer aus dem Laden, verprügelten ihn und banden ihn mit Kabelbindern an einem Baum fest.

Ein Teil des Vorfalls wurde gefilmt und findet sich neben nachgestellten Szenen auch in Mario Pfeifers Videoinstallation wieder. 

Zahlreiche Menschen in der Stadt beschrieben das Handeln der Männer als "einen selbstlosen Akt der Zivilcourage" - Pfeifers Werk hinterfragt diese Perspektive.

Stills der Videoinstallation von Mario Pfeifer - Again - Noch Einmal
Mehrere Minuten wurde der Vorfall in dem Arnsdorfer Supermarkt gefilmt - auch die Frage, ob es sich um eine bewusste Inszenierung durch Rechte gehandelt haben könnte, stand im RaumBild: KOW/Mario Pfeifer Studio

Gericht: "kein öffentliches Interesse"

Gegen die vier Tatverdächtigen wurde schließlich ein Gerichtsverfahren eröffnet. Ursprünglich waren dafür zehn Verhandlungstage angesetzt, doch bereits kurz nach der Eröffnung des Prozesses einigten sich Verteidiger und Staatsanwalt darauf, das Verfahren einzustellen: Al-Aziz, das Opfer, wurde eine Woche vor Prozessbeginn erfroren im Wald gefunden, konnte also nicht mehr selbst aussagen. Die vier Angeklagten hatten keine Einträge ins Strafregister und das Gericht befand, es bestehe kein öffentliches Interesse an dem Fall. Anhänger der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) sowie rechtsextreme Gruppierungen begrüßten die Entscheidung.

Der Vorfall um Shabaz Saleh Al-Aziz ereignete sich unweit von Mario Pfeifers Heimatstadt Dresden. Der Künstler sagt, er werfe "grundlegende Fragen über unsere heutige Zivilgesellschaft" in Deutschland auf. Pfeifer befürchtet, dass es durch den eingestellten Prozess normal werden könnte, dass Menschen unter dem Vorwand der "Zivilcourage" Selbstjustiz betreiben. 

"Das Monopol von Recht und Gerechtigkeit, die Ausübung des Zivilrechts liegt dann nicht mehr in der Hand des Staates, sondern in der Hand von Menschen, die behaupten, ihre eigene Vorstellung von Gerechtigkeit zu stärken. Ich finde das inakzeptabel und gefährlich", sagte er der DW.

"Wäre einem Deutschen das Gleiche passiert?"

In seinem Film kommen zudem zehn Bürgerinnen und Bürger zu Wort, die selbst Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland gemacht haben und ihre Gefühle und Gedanken zu dem Vorfall beschreiben. Vielen von ihnen kommen die Tränen beim Anblick der Gewalttat gegen Shabaz Saleh Al-Aziz. Und sie alle sind schockiert darüber, dass das Ereignis in den deutschen Medien klein gehalten und von der Gesellschaft nicht verurteilt wurde. 

"Wäre einem Deutschen das Gleiche passiert?", fragt jemand aus der Gruppe. "Ich bin mir nicht sicher", antwortet eine Frau. Sie habe das Vertrauen in die Gerichte verloren.Kunst und Kultur: neue Denkanstöße, aber keine Lösungen

Installationsansicht der Videoinstallation von Mario Pfeifer - Again - Noch Einmal
Die Zuschauer aus Pfeifers Installation sind schockiert über den Umgang mit dem VorfallBild: KOW/Mario Pfeifer Studio/Timo Ohler

Johannes Odenthal, Programmbeauftragter der Akademie der Künste Berlin, sagt, dass Werke wie Pfeifers eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielen. "Es ist eine Erinnerungsarbeit. Die Kunstproduktion ist sehr wichtig, um die Geschichte zu überdenken, anderen Narrativen Raum zu geben, an Gerechtigkeit zu arbeiten, mit Minderheiten verbunden zu sein."

Gabriele Horn, Direktorin des KW Institute for Contemporary Art Berlin, ergänzt: "Kunst kann gesellschaftliche Entwicklungen und Widersprüche aufzeigen, alternativen Narrativen Gehör verschaffen und differenzierte Diskussionen ermöglichen - mit anderen Mitteln als beispielsweise der Journalismus."

Allerdings, so Horn weiter, sollte "Kunst keinesfalls als Allheilmittel missverstanden werden, das dazu dient, aktuelle soziale Probleme zu lösen. Das ist in erster Linie Aufgabe der Politik."

Rechtsextremismus weiterhin großes Thema

Die Ausstellung von Mario Pfeifers "Again / noch einmal" reiht sich ein in eine Vielzahl künstlerischer Aktionen, mit denen bereits auf die fremdenfeindlichen Proteste in Chemnitz reagiert wurde. Man denke an das Chemnitzer Anti-Rassismus-Konzert mit rund 65.000 Zuschauern, das Open-Air-Konzert mit Beethovens Neunter Sinfonie "Ode an die Freude" oder die bronzenen Wolfsstatuen, die vor dem Karl-Marx-Monument stehen.

Zur Zeit plant das Theater Chemnitz  eine Oper über die Widerstandsbewegung "Weiße Rose" - als Protest gegen das Tragen weißer Rosen rechtsextremer Demonstranten - und auch beim bevorstehenden Filmfestival DOK Leipzig (29. Oktober bis 4. November) wird der Rechtsextremismus "definitiv ein zentrales Thema sein", so die Organisatoren.