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Politik

Deutschlands Spiel mit dem Feuer

Kommentarbild Joel Dullroy PROVISORISCH
Joel Dullroy
31. Dezember 2020

Die deutsche Politik hat sich nicht auf ein konsequentes Feuerwerksverbot zu Silvester geeinigt. Das macht klar, wie wenig sich die deutsche Corona-Strategie an Fakten orientiert, meint Joel Dullroy.

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Feuerwerk über dem Brandenburger Tor zum Jahreswechsel 2019/2020
So sieht es üblicherweise zu Silvester am Brandenburger Tor ausBild: AFP/T. Schwarz

In der Silvesternacht füllen sich traditionell Deutschlands Notaufnahmen mit Verletzten: Opfer des alljährlichen Feuerwerks. Dieses Mal, mitten in der zweiten Corona-Welle, werden die deutschen Spitäler kaum Kapazitäten für so viele Behandlungen haben. Trotzdem haben die Regierungschefs der einzelnen Bundesländer entschieden, die Knallerei nicht zu verbieten.

Sie haben unter den aktuellen Lockdown-Maßnahmen zwar den Verkauf von Feuerwerksartikeln verboten. Wer allerdings noch Raketen und Böller aus den Vorjahren übrig hat, kann die nach wie vor abfackeln. Die Politik empfiehlt der Bevölkerung lediglich, angesichts der angespannten Situation in den Krankenhäusern dieses Jahr aufs Feuerwerk zu verzichten. Als ob sich Pyromanie mit Logik bekämpfen ließe.

Die deutsche Polizei ist überzeugt, dass dieses Semi-Verbot nichts bringt. "Wer böllern will, fährt nach Polen und besorgt sich dort Feuerwerk", sagt Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Die Bundesärztekammer hatte sich für einen komplett feuerwerksfreien Jahreswechsel ausgesprochen - die Kollegen würden schlicht nicht mit der Anzahl von Verletzungen der Augen, Gliedmaßen und Atemwege zurechtkommen.

Viele Spitzenpolitiker lässt das offenbar unbeeindruckt. "Das Feuerwerk an Silvester muss trotz Corona erlaubt sein", erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer.

Im Sinne der Aufklärung?

Wenn es etwas gibt, das Deutschlands Ruf als Wissenschaftsnation ernsthaft in Frage stellt, dann die Diskussion ums Silvesterfeuerwerk. Die politische Elite war nicht einmal imstande, auf die dringenden Appelle der Ersthelfer zu reagieren. Sie haben öffentlichen Alkoholkonsum verboten, Weihnachtsmärkte geschlossen und Demonstrationen verboten - die Böllerei bleibt heilig.  

Angela Merkel selbst hatte vor einigen Wochen im Bundestag einen emotionalen Appell für striktere Lockdown-Maßnahmen gehalten. Ihre Regierung lasse sich von der Aufklärung leiten und von der Überzeugung, "dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte". Da fragt man sich dann schon: Was ist so aufklärerisch daran, gefährliche Brandsätze überhaupt zu erlauben, und erst recht mitten in einer Pandemie?

Schall und Rauch

Friedrich Schillers Ode "An die Freude" hat den Deutschen den schönen Begriff "feuertrunken" gebracht. Betrunken vom Feuer? Das beschreibt den Zustand eines Großteils der deutschen Bevölkerung am Silvesterabend ganz gut. Der Rest versteckt sich besser, um von den Explosionen nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Denn es passiert durchaus, dass Passanten mit Böllern beworfen werden, Knaller von Balkonen fliegen oder sogar Gaspistolen abgefeuert werden - aber, wer weiß schon, ob es nicht doch scharfe Waffen sind?

Kommentar Joel Dullroy
DW-Redakteur Joel DullroyBild: Hermano Silva

Allein in Berlin wurde die Feuerwehr im vergangenen Jahr zu mehr als 600 Einsätzen gerufen. 15 Personen erlitten schwere Verletzungen, die operiert werden mussten. Und die Feinstaubbelastung des Silvesterfeuerwerks machen allein zwei Prozent der gesamten Jahresemissionen aus. Trotzdem bestehen viele Deutsche auf ihrem Feuerwerk wie viele US-Bürger auf ihr Recht, eine Waffe zu tragen.

Bei einer Umfrage von YouGov vor zwei Jahren gaben rund 55 Prozent der befragten Deutschen an, dass die Böllerei für sie zu Silvester essentiell dazugehört. Das scheint sich zu ändern: Nun befürworteten 64 Prozent ein Feuerwerksverbot wegen der Corona-Pandemie.

Insgesamt ist schwer zu beurteilen, wer denn nun wirklich glücklich ist mit dem halben Bann. Die Feuerwerkslobby bestimmt nicht. Sie teilte mit, man erwarte, rund 90 Prozent ihres 130-Millionen-Euro-Umsatzes und 3000 Jobs zu verlieren. Feuerwerksfans müssen sich neue Wege suchen, ihr Arsenal zu befüllen. Mit dieser Lösung gibt es nur Verlierer und keine Gewinner. Und die Politiker haben jede Menge neue Feinde.

Einigkeit und Recht auf Böllern

Zu ihrer Verteidigung: Viel mehr hätten sie unter geltendem Recht nicht tun können. Der Verkauf von Feuerwerkskörpern kann die Regierung verbieten, nicht aber ihre Benutzung an Silvester. Das können nur Stadtverwaltungen und auch sie nur an ausgewählten Orten. Ein Gericht im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen lehnte beispielsweise dieses Jahr ein landesweites Komplettverbot ab. Das zeigt, dass einige Pyrotechnikfans bis vor den Richter gehen, um ihr Recht auf Knallen durchzusetzen.

Geschäft in Slubice
Viele Deutsche könnten im Ausland Feuerwerkskörper kaufen - wie hier im polnischen Słubice, direkt hinter der Grenze Bild: Agnieszka Hreczuk/DW

Aber geltendes Recht kann geändert werden. In der Corona-Zeit, in der sich ohnehin so viel Essentielles ändert, ist vieles machbar. Die Politiker müssten nur ihre eigenen Äußerungen ernstnehmen, denen zufolge die Pandemiebekämpfung oberste Priorität hat, anstatt populistische Entscheidungen zu treffen.

Immerhin: Viele Kommunen machten von ihrem Recht Gebrauch, das Feuerwerk an ausgewählten Orten zu verbieten. Allein Berlin hat mehr als 50 solcher Zonen benannt. Doch das wird das Chaos nicht verhindern, nur verlagern.

Die Stadt Köln ruft ihre Bürger dazu auf, um Mitternacht in ihren Häusern zu bleiben und statt zu böllern das Licht an und aus zu machen und damit das weltweit größte "Licht-Feuerwerk" zu zünden.

Deutlich weiter sind andere Länder: Belgien hat das Feuerwerk dieses Jahr ganz verboten. Die Niederlande haben sogar den Transport von Feuerwerksartikeln unter Strafe gestellt. Australien verbietet privates Abbrennen von Feuerwerksartikeln schon lange, erlaubt aber das Lichtspiel durch autorisierte Organisatoren. So können wir uns vom leuchtenden, bunten Spiel des Feuers beeindrucken lassen, ohne dabei um unser Leben fürchten zu müssen. Große Ansammlungen rund ums Feuerwerk wären dieses Jahr schlicht unangemessen. Aber eine wirklich aufgeklärte Nation würde sich wohl auch in Zukunft dafür entscheiden, ihrer Feuerwerks-Obsession ein Ende zu setzen.

Aus dem Englischen adaptiert von Friedel Taube.

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