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PolitikIrak

Wahl im Irak: Kein Vertrauen ins System

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
12. Oktober 2021

Geringe Beteiligung und ein Prediger als Wahlgewinner: Die irakische Parlamentswahl spiegelt ein massives Misstrauen in die politische Klasse wider, meint Kersten Knipp.

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Unterstützer von al-Sadr feiern nach den Parlamentswahlen
Anhänger Muktada al-Sadrs feiern das Wahlergebnis, aber das Land steht vor gewaltigen ProblemenBild: Ayman Yaqoob/AA/picture alliance

Er ist der neue und zugleich alte starke Mann im Irak: Muktada al-Sadr, dessen Bündnis nach vorläufigen Angaben erneut und offensichtlich mit abermaligen Stimmenzuwachs als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgegangen ist. Zum Wahlsieg "gratulieren" mag man dem populären schiitischen Prediger und Politiker aber allenfalls unter ganz erheblichem Vorbehalten.

Dies nicht nur, weil rivalisierende schiitische - im Gegensatz zu al-Sadr allerdings pro-iranisch ausgerichtete Kräfte - dem Populisten al-Sadr bereits Wahlbetrug vorwerfen. Dieser Vorwurf ist im Irak leichter erhoben als unabhängig überprüft, aber er belastet das politische Klima und könnte sich durchaus noch konfliktverschärfend auswirken.

Besonders gravierend (und nicht minder besorgniserregend) ist jedoch die auf einen neuen Tiefststand gesunkene Wahlbeteiligung: Al-Sadr - der sich selbst nicht um das Amt des Premierministers bewirbt, sondern sich traditionell als "Königsmacher" versteht - triumphierte bei einem Urnengang, an dem sich nicht einmal die Hälfte der irakischen Bevölkerung beteiligte. Gerade einmal 41 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Wie immer also eine künftige irakische Regierung aussehen könnte: Ihre demokratische Legitimation erscheint schon jetzt massiv geschwächt.

Hohe Frustration

Die niedrige Wahlbeteiligung kommt freilich nicht von ungefähr, sondern ist Ausdruck einer hohen politischen Frustration vieler Iraker. Auch der offenkundige Wahlsieg al-Sadrs spiegelt diese Frustration wider, denn al-Sadr hatte sich betont als Anti-Stimme zum politischen Establishment präsentiert. So hatte er im Vorfeld sogar zunächst erklärt, die Wahl boykottieren zu wollen. Er begründete dies seinerzeit mit der anhaltenden Misswirtschaft und der grassierenden Korruption im Irak. Damit entsprach er einem in der irakischen Bevölkerung schon länger weit verbreitetem Unbehagen. Dieses hatte im Herbst 2019 zu landesweiten Protesten insbesondere junger Iraker geführt, die schließlich brutal niedergeschlagen wurden.

DW-Redakteur Kersten Knipp
DW-Redakteur Kersten KnippBild: W. Knipp

Mit der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste zerschlugen sich vorerst nicht nur die Hoffnungen auf ein Ende der Korruption und der damit verbundenen Missstände - gravierende Mängel in der Infrastruktur und der Versorgung, aber beispielsweise auch beim Umweltschutz. Auch Hoffnungen auf einen geeinten Irak mit einer starken Zivilgesellschaft erhielten einen massiven Dämpfer. Denn auch dafür hatte sich die Protestbewegung stark gemacht: für einen Irak, dessen Bevölkerung sich künftig nicht mehr entlang konfessioneller oder ethnischer Grenzen auseinanderdividieren lässt. Doch die Protestbewegung war bei dieser Wahl selbst gespalten.

Ein Teil rief zum Boykott auf und trug zu der niedrigen Wahlbeteiligung bei. Ein anderer Teil beteiligte sich mit eigenen Kandidaten und erzielte zumindest Achtungserfolge, während pro-iranische Kräfte klare Verluste hinnehmen mussten. Dies kann man als Hinweis werten, dass viele Iraker gegen einen zu starken Einfluss des mächtigen Nachbarn Iran sind. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass sie einen starken US-Einfluss wünschten. Auch al-Sadr lehnt offiziell beides ab.

Konfessionelle und ethnische Gräben

Allerdings lässt der Triumph al-Sadrs befürchten, dass der Irak sich auch weiterhin entlang konfessioneller Linien gliedern und politisch immer wieder neu aufspalten wird - selbst dann, wenn al-Sadr sich als Repräsentant der gesamten Bevölkerung inszenieren sollte. Doch viele seiner Anhänger sehen in ihm beides: einen Politiker, der sich gegen Establishment und ausländischen Einfluss zur Wehr setzt - aber auch eine dezidiert schiitische Autorität und Führungsfigur. Damit ist al-Sadr aber keine Identifikationsfigur für beispielsweise sunnitische oder christliche Iraker.

So laviert der Irak weiter an ethnisch-konfessionellen Gräben entlang, die einst der skrupellose Gewaltherrscher Saddam Hussein bewusst als Herrschaftsinstrument geschaffen hatte - und die auch die USA nach ihrer Invasion 2003 nicht überbrücken konnten. Im Gegenteil: Ihre gegen die zuvor sunnitisch dominierten staatlichen Institutionen gerichtete Politik trieb damals viele Sunniten in einen erbitterten Widerstand, der sich auch in Form von Extremismus und Terrorismus artikulierte.

Das gegenseitige Misstrauen ist geblieben - und auch diese Wahl ist in erster Linie als eine Art  Misstrauensvotum zu verstehen - für das gesamte politische System und seine Repräsentanten, also für das Establishment. Offensichtlich traut eine Bevölkerungsmehrheit den bisherigen Eliten nicht zu, die vielfältigen Probleme des Landes zu lösen. Weitere Konflikte erscheinen damit vorprogrammiert.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika